Bloß keine Panik. Auf diesen Nenner läßt sich die bisherige Reaktion der deutschen Politik auf die Ankunft des Coronavirus in Deutschland bringen. Während andere Staaten ganze Städte oder gar Regionen abriegeln und unter Quarantäne stellen, um das Virus einzudämmen, vertraut Deutschland auf die Bürokratie und ihre Formulare. „Die Bundespolizei hat angewiesen, daß in allen Zügen im Regional- und Fernverkehr Aussteigekarten auszufüllen sind, wenn Corona-Verdachtsfälle festgestellt wurden“, teilte das Bundes-innenministerium in der vergangenen Woche nach einer Sitzung des von Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eingesetzten Krisenstabes mit. Ziel der Maßnahme ist es, im Falle einer Infektion mögliche Kontaktpersonen des Patienten schnell zu ermitteln. Daher müssen auch Personen, die aus Infektionsgebieten nach Deutschland einreisen, künftig ihren Aufenthaltsort angeben. Doch angesichts des Tempos, mit dem sich das Virus verbreitet, wirken diese Maßnahme seltsam defensiv.
Für Verwunderung sorgte in der vergangenen Woche auch, daß der Krisenstab ankündigte, Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung mit Schutzausstattung „vorzubereiten“. Hätten diese Maßnahmen nicht bereits vorausschauend in die Wege geleitet werden müssen, als die ersten Meldungen über das Ausmaß der Epidemie in China bekannt wurden? Anfang der Woche schlug der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, mit Blick auf den Vorrat an Schutzausstattungen bereits Alarm: „Der Grundbestand, über den die niedergelassenen Kollegen in ihren Praxen verfügen, wird bundesweit nicht ausreichen, wenn die Zahl der Verdachtsfälle steigen wird“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa.
Ungeachtet der betonten Gelassenheit der Bundesregierung mehren sich die Zeichen einer wachsenden Beunruhigung in der Bevölkerung. Vielerorts sind die Regale mit Desinfektionsmitteln leergekauft, ähnlich sieht es mit Toilettenpapier aus. Auch die Regale mit Konserven haben sich in vielen Supermärkten deutlich gelichtet. Viele Bürger legen sich offenbar einen Notvorrat für den Fall einer Quarantäne an.
Unterdessen steigt die Zahl der offiziell registrierten infizierten Personen in Deutschland stetig an. Mitte der Woche waren bereits mehr als 200 Personen positiv auf das Coronavirus getestet worden. Schon Ende vergangener Woche zeichnete sich ab, daß den Behörden die Kontrolle entglitten ist, da bei den Infizierten im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen, dem aktuellen Hauptausgangspunkt des Virus in Deutschland, die Infektionskette zum Teil nicht mehr nachvollziehbar ist.
Tourismus- und Leipziger Buchmesse abgesagt
Doch bilden die statistisch erfaßten Corona-Fälle in Deutschland den tatsächlichen Verbreitungsgrad des neuartigen Virus ab? Daran haben Experten Zweifel. Es mehren sich die Anzeichen, daß viele Infektionen bislang noch unentdeckt sein könnten, auch weil Ärzte und Gesundheitsämter mit der neuen Situation vielfach überfordert sind. Ein Mann aus Hessen faßte seine erfolglosen Bemühungen, sich testen zu lassen, am Montag auf Twitter resigniert zusammen: „Kurzum: Kein Test, kein Corona-Fall.“ Mit anderen Worten: Würde in Deutschland wesentlich intensiver getestet, würden die Fallzahlen vermutlich deutlich ansteigen.
Dennoch schreckt Gesundheitsminister Spahn bislang vor weiterreichenden Maßnahmen zurück. Derzeit sei es seiner Ansicht nach nicht erforderlich, die Grenzen zu schließen oder einzelne Regionen abzuriegeln. Das sieht die Vorsitzende der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Alice Weidel, anders: „Es wäre mehr als fahrlässig, wenn wegen einseitiger Fixierung auf das Dogma der offenen Grenzen notwendige Maßnahmen zur Eindämmung des Virus nicht oder zu spät getroffen würden.“
Spahn verwies allerdings darauf, daß bereits einschneidende Maßnahmen ergriffen worden seien: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik sei etwa eine zentrale Unterbringung von China-Rückkehrern veranlaßt worden. Dies beruhe ebensowenig wie die häusliche Quarantäne auf Freiwilligkeit, sondern auf den Möglichkeiten des Infektionsschutzgesetzes.
Am Montag bekräftigte Spahn vor dem Gesundheitsausschuß des Bundestages das Ziel, die Ausbreitung des Virus so weit wie möglich einzudämmen. Neben der Begrenzung der Zahl der Neuinfektionen werde versucht, das Infektionsgeschehen zu verlangsamen und damit auch Zeit zu gewinnen, um mehr über das Coronavirus zu erfahren, sagte er. Je besser es gelinge, bei den Infektionen Geschwindigkeit herauszunehmen, um so besser könne das Gesundheitssystem mit der Epidemie auch umgehen.
Ob diese Strategie erfolgreich ist, erscheint trotz der Absage mehrerer Großveranstaltungen wie der Internationalen Tourismusmesse in Berlin oder der Leipziger Buchmesse zweifelhaft. Denn nach Ansicht des Gesundheitsexperten der SPD-Bundestagsfraktion, Karl Lauterbach, ist das Virus ansteckender als erwartet. Es sei daher davon auszugehen, daß die Epidemie im Sommer nicht ganz weggehen, sondern im Herbst verstärkt zurückkommen und wahrscheinlich in eine Pandemie münden werde: „Wir werden im Herbst sehr wahrscheinlich eine starke Zunahme der Fälle in China, aber auch in Europa sehen“, sagte Lauterbach der ARD.