© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/20 / 06. März 2020

„Selbstbestimmung“
oder „Kultur des Todes“? Sterbehilfe: Lob und Kritik für eine Karlsruher Entscheidung
Paul Leonhard

Es gibt ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben und dieses schließt sowohl die Selbsttötung als auch die Möglichkeit, sich hierfür der Hilfe Dritter zu bedienen, ein. So hat das Bundesverfassungsgericht begründet, warum der bisherige Paragraph 217 des Strafgesetzbuchs, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung verbietet, verfassungswidrig ist. Das erst 2015 eingeführte Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe verstoße gegen das Grundgesetz, da es die begleitete Selbsttötung faktisch unmöglich macht. Die Beschwerdeführer, schwerkranke Menschen, Ärzte und Sterbehilfevereine, sahen sich in ihrem Persönlichkeitsrecht und ihrer Berufsfreiheit verletzt – und bekamen in Karlsruhe recht. Die Entscheidung zum Suizid sei als Akt autonomer Selbstbestimmung zu werten und müsse vom Staat und der Gesellschaft jederzeit respektiert werden und bedürfe keiner weiteren Begründung, Prüfung oder Rechtfertigung, urteilten die Richter. 

Damit gehe das Bundesverfassungsgericht weiter als jede bisherige internationale Rechtsprechung, kritisierte die Bundesvorsitzende des Vereins „Christdemokraten für das Leben“ (CDL), Mechthild Löhr. Mit der jüngsten Entscheidung könne der Gesetzgeber die Suizidbeihilfe zwar regulieren, sei aber verpflichtet, „hinreichenden Raum zur Entfaltung und Umsetzung“ für die Entscheidung zur Selbsttötung zu gewährleisten, was einem Anspruch auf Suizidhilfe gleichkommt, so Löhr. Die könne als radikale Abkehr vom bisherigen Rechtsverständnis des Suizid gewertet werden: Das Urteil sei „wohl eine der dunkelsten Stunden deutscher Rechtsprechung“.

Löhr verweist darauf, daß in fast allen Ländern, in denen die Sterbehilfe zugelassen ist, diese an einen mehr oder weniger engen Kriterien- oder Krankheitskatalog gebunden sei und nur unter festgelegten Prüfungsvoraussetzungen straffrei erfolgen könne. In der Schweiz, wo assistierter Suizid erlaubt ist, muß der Sterbewunsch ohne äußeren Druck entstanden und dauerhaft sein. Seit 1998 haben nach Angaben der Neuen Zürcher Zeitung 1.322 deutsche Staatsbürger diese Möglichkeit genutzt.

Den Verein Sterbehilfe Deutschland erfreute das Urteil. „Wir können wieder genau so Sterbehilfe leisten wie bis zum November 2015“, sagt der Vereinsvorsitzende und frühere Hamburger Justizsenator Roger Kusch. Dieter Birnbacher, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben spricht von einem „großen Tag für die Schwerkranken in Deutschland, die schon lange auf ein solches Signal warten.“

Kritik kommt dagegen von der Evangelischen Kirche und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz. „Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Es sei zu befürchten, daß die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen könne, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen.

Die nach dem Urteil notwendig werdende Gesetzesänderung dürfte im Bundestag für heftige Debatten sorgen. Beim Thema Sterbehilfe verlaufen die Fronten quer durch die Fraktionen. So begrüßen zwar Grüne und FDP die Karlsruher Entscheidung, während viele Christdemokraten sie ablehnen. Bei SPD und AfD ist man sich uneinig. Während beispielsweise SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach das Urteil lobte, zeigte sich die SPD-Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese „sehr besorgt“.

Zugang zu todbringender Medizin ermöglichen

„Dieses Karlsruher Urteil schafft eine Kultur des Todes“, gab sich die  stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende Beatrix von Storch erschüttert: „Das ist ein ethischer Tabubruch, der schlimme Konsequenzen haben wird.“ Der Druck auf alte, kranke, pflegebedürftige, „unproduktive“ Menschen „zum sozialverträglichen Ableben“ werde perspektivisch zunehmen. Anderer Meinung ist ihr Parteifreund Detlev Spangenberg: Mit dem Urteil werde „das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen, auch über sein Leben frei zu entscheiden, gestärkt“, findet der gesundheitspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion. Die Richter würden mit ihrer Entscheidung genau den Standpunkt vertreten, den er namens der AfD-Fraktion bereits im vergangenen April im Bundestag vertreten habe, so Spangenberg: „Als maßgeblich sollte immer die eigene Wahrnehmung des Betroffenen gelten, nicht die Bewertung von außerhalb.“ Allerdings betonte der Politiker aus Sachsen, daß „es keinen Anspruch geben kann, von einem Arzt Unterstützung zur Selbsttötung zu verlangen“. Gleichzeitig müsse die Berufsordnung der Ärzte geändert werden.

Schnell umdenken muß jetzt vor allem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der bisher kraft Amtes ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig von 2017 blockiert hat, nach dem der Staat schwerkranken Menschen in „extremen Notlagen“ einen Zugang zu todbringenden Medikamenten ermöglichen müsse. Dem für de Entscheidung zuständigen Bundesinstitut in Bonn hatte Spahn untersagt, Anträge kranker Menschen auf Suizid positiv zu bescheiden. Auch aktuell denkt der CDU-Politiker darüber nach, den Spielraum, den das Gericht dem Gesetzgeber einräumt, in seinem Sinne auszunutzen: Beratungspflichten, Wartezeiten oder auch einen Nachweis über die Ernsthaftigkeit eines Todeswunsches. In einer aktuelle Umfrage von Report Mainz meinten 81 Prozent der Teilnehmer, daß es Ärzten erlaubt sein sollte, Schwerstkranke beim Suizid zu unterstützen.