© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/20 / 06. März 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Die Kanzlerbahn rollt weiter
Paul Rosen

Weil Kanzler Helmut Kohl 1994 den ersten Spatenstich für den Bau einer neuen U-Bahn-Linie vom Alexanderplatz zum Berliner Hauptbahnhof (dem früheren Lehrter Bahnhof) setzte, heißt sie „Kanzler-U-Bahn“. Sie sollte die Verlängerung der U-Bahn-Linie 5 werden, die vom östlichen Stadtteil Hönow ins Stadtzentrum fährt. Ende 2020, also 26 Jahre später, soll tatsächlich der erste Zug von Hönow über Lichtenberg, den Alexanderplatz und vorbei am Roten Rathaus, dem Brandenburger Tor, dem Reichstag bis zum neuen Endbahnhof Hauptbahnhof fahren. Die ersten Planungen für eine U-Bahn vom Alexanderplatz zum Stadtteil Moabit gab es bereits in den fünfziger Jahren vor dem Mauerbau.

Fertiggestellt war seit 2009 immerhin schon ein kurzes Teilstück vom Hauptbahnhof bis zum Brandenburger Tor mit einem Zwischenstopp am Reichstag. Diese Stummel-Linie mit dem Namen U55 ist bei Touristen beliebt als eine der kürzesten Strecken der Welt. Bahn-Enthusiasten schätzen sie wegen des Pendelverkehrs (derzeit wird nur ein Gleis befahren) und wegen der historischen Triebzüge aus den fünfziger Jahren. Die müssen bei Reparaturen von einem Kran durch einen Schacht ins Freie gehoben und auf einem Lkw-Anhänger abtransportiert werden, da die U55 bisher keinen Anschluß an das übrige Netz hat.  

Beinahe wäre die Bahn gar nicht gebaut worden. Obwohl in Berlin alle Parteien ständig vom Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs reden, wollte der Senat schon 1995 das ganze Projekt stoppen – zu teuer. Nach der Jahrtausendwende stand der 2,2 Kilometer lange Lückenschluß zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz auf der Kippe. Erst als der Bund mit Rückforderung seines Zuschusses in Höhe von 170 Millionen Euro drohte, ließ der Senat weiterbauen – mit den in Berlin üblichen Baupannen wie einem massiven Wassereinbruch.

Aber jetzt ist die Eröffnung in Sicht. Ende dieses Jahres sollen touristische Attraktionen wie der Alex, das Rote Rathaus, die Museumsinsel, das Brandenburger Tor und der Reichstag mit einer Linie im wahrsten Wortsinne zu erfahren sein. Auch vielen Berufstätigen erspart die in voller Länge fahrende U5 das lästige Umsteigen in die S-Bahn.

Bei der Fahrt dürfte sich der der eine oder andere Fahrgast vielleicht wundern, warum die Station vor dem Hauptbahnhof Bundestag und nicht Reichstag heißt. Schließlich würde in Rom auch kein Mensch auf den Gedanken kommen, die Metrostation „Colosseo“ nicht nach dem römischen Wahrzeichen, sondern nach dem Forum Romanum zu benennen.

Der Stationsname Bundestag geht auf einen Wunsch des Ältestenrates des Bundestages zurück, wo man den volkstümlichen Begriff Reichstag nicht schätzt. Bereits der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) wollte den Begriff Reichstag insgesamt durch „Plenarbereich“ ersetzen, was ihm vom damaligen CSU-Landesgruppenchef Michael Glos, einem begnadeten Spötter, den Titel „Plenarbereichsleiter“ eintrug.