© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/20 / 06. März 2020

Europäische Kolonialzeit: Für deutsche Kolonien ein Gewinn
Verkannter Erfolg
Bruce Gilley

Mein Interesse für die deutsche Kolonialzeit begann mit meiner Biographie des britischen Kolonialverwalters, Gouverneurs und Diplomaten Sir Alan Burns. Als er 1914 im Alter von 27 nach Nigeria abkommandiert wurde, wurde er mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs in die Kämpfe um Deutsch-Kamerun verwickelt. Mich wunderte die breite Unterstützung, die die deutschen Kolonialherren unter der einheimischen Bevölkerung zu genießen schienen, vor allem auch in Deutsch-Ostafrika. Wenn man die angeblichen „wissenschaftlichen Arbeiten“ zur deutschen Kolonialzeit in Afrika liest, muß man der Meinung sein, daß die Afrikaner die deutschen Kolonialherren haßten und für sie nie einen Finger krumm gemacht hätten.

Ich bin kein Historiker, erst recht kein Kolonialhistoriker. Ich bin Sozialwissenschaftler und bin als solcher zur Überzeugung gekommen, daß das meiste, das von Kolonialhistorikern publiziert wird, nicht einmal den allgemein akzeptierten Mindeststandards für sozialwissenschaftliche Arbeit genügt. Es ist vielmehr ideologisch voreingenommen und teils sogar in sich widersprüchlich. Meine beste Qualifikation, über die deutsche Kolonialgeschichte zu schreiben, ist also die Tatsache, daß ich kein Kolonialhistoriker bin.

Beginnen wir mit Deutsch-Südwest-afrika (Namibia und Teile des heutigen Botswana), denn je eher wir dieses Thema richtig anpacken, desto besser: Denn sonst wird uns gebetsmühlenartig der Einwand „Was ist mit den Herero?“ entgegenschallen. Also gut, sei’s drum: Was ist mit den Herero?

Die deutschen Kolonialisten betraten mit Südwestafrika ein Land, das vor ihrer Ankunft schon in jeder Beziehung anarchisch und brutal war. Vor allem die Konflikte zwischen den Herero und den Nama wegen Weideland, Viehraub und Gehegen drohten ständig zu eskalieren. An einem einzigen Tag, am 23. August 1850, haben die Nama etwa ein Fünftel aller Hereros massakriert, an einem Ort, der seitdem den Namen „Mordkuppe“ trägt.

Während sich die in Ostafrika vorhandene Handelskultur verhältnismäßig problemlos in die damalige Weltwirtschaft integrieren ließ, war die Ankunft der Außenwelt in Südwestafrika ein massiver Eingriff. Die deutschen Siedler eilten ihrer Verwaltungsstruktur voraus, was für die Nama und Herero einen plötzlichen Schock statt einer langsamen Entwicklung darstellte. Als sich die Lebensbedingungen für beide Gruppen verschlechterten, rebellierten sie. Dabei kämpften die Nama zuerst mit den Deutschen gegen den Aufstand der Herero, bis sie auch rebellierten.

Die Antwort der Deutschen war, zuerst die Ordnung wiederherzustellen, bevor man mit Reformen beginnen konnte. Leider fiel diese Aufgabe einem kriegstraumatisierten Außenseiter zu: General Lothar von Trotha. Kaum eingetroffen, erließ von Trotha seinen berüchtigten Vernichtungsbefehl. Nach der brutalen Niederschlagung des Herero­-Aufstandes waren 1906 aufgrund von Krieg, Hungersnot, Durst, Vergiftung oder Lagerhaft von 80.000 Hereros nur noch 20.000 am Leben. Um einem ähnlichen Vernichtungsbefehl zu entgehen, ergaben sich die Nama 1907.

Nichts entschuldigt von Trothas Vernichtungsbefehl. Er war ein einzelner Offizier, der seine Macht mißbrauchte. Aber es wäre falsch, den Mord an den Herero als Völkermord zu bezeichnen. Es war die Fehlentscheidung eines einzelnen.

Die ganze Brutalität des deutschen Vernichtungsfeldzugs gegen die Herero und Nama wurde einzig durch von Trothas Befehl verursacht. Er wurde danach abberufen, angeklagt, verurteilt und seine Politik widerrufen. Als 1910 sein Nachfolger antrat, versprach dieser, „unter den Eingeborenen das Vertrauen wiederherzustellen, daß sie vor den Exzessen einzelner beschützt werden“.

Nichts entschuldigt von Trothas Vernichtungsbefehl. Er war ein einzelner Offizier, der seine Macht mißbrauchte. Aber es wäre meines Erachtens falsch, den Mord an den Herero als Völkermord zu bezeichnen, denn er war kein systematischer Ausdruck zentral gesteuerter deutscher Kriegsführung. Es war die Fehlentscheidung eines einzelnen. Die deutschen Kolonialherren und die deutsche Politik waren keine Völkermörder, von Trotha war es. Er war ein Kriegsverbrecher.

Eigentlich sollte die deutsche Kolonialzeit viel eher anhand der Geschichte von Deutsch-Ostafrika beurteilt werden. Warum hören wir jedoch so wenig über Ostafrika, das heute hauptsächlich Tansania heißt (mit Teilen von Ruanda, Burundi, Kenia und Mosambik)? Ganz einfach: Weil Deutsch-Ostafrika ein enormer Erfolg war.

1907 schrieb Martin Ganisya, ein befreiter Sklave, der es zum Lehrer an der Evangelischen Missionarsschule in Dar es Salaam brachte, von der „Pax Germanica“, die die deutschen Kolonialherren gebracht hatten: „Der vorherige Zustand der Kolonie war einer des fortgesetzten Unrechts. Jetzt herrscht Frieden allenthalben.“ Bei der Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands 1905/07 erfreuten sich die Deutschen breiter Unterstützung in der Bevölkerung. Die Reformen nach 1907 läuteten eine Ära des Fortschritts ein, die in der europäischen Kolonialgeschichte in Afrika ihresgleichen sucht.

In der Reichstagsdebatte zum Kolonialhaushalt im März 1914 wurde eine Resolution verabschiedet, in der Arbeitnehmerrechte für Eingeborene, ein Ende der Zwangsarbeit und die allgemeine Schulpflicht festgeschrieben wurden. Der US-Historiker Woodruff Smith nannte den Beschluß 1978 „die umfassendste Erklärung durch eine Kolonialmacht seiner selbstauferlegten Verantwortung gegenüber den Kolonialvölkern und der Begrenzung der Ausübung der Kolonialmacht“. Nach Smith hatte die deutsche Berufung auf breite Unterstützung in der Kolonialbevölkerung Hand und Fuß, wie man anhand wichtiger Gruppen sehen kann. Deshalb dauerte der Erste Weltkrieg in Ostafrika so lange, denn die eingeborenen Kämpfer waren dem Deutschen Reich gegenüber so loyal, daß sie bis zum bitteren Ende im Herbst 1918 weiterkämpften.

Auch über Deutsch-Kamerun hören wir von linken Kolonialhistorikern nie ein Wort. Warum? Weil die deutsche Kolonie hier ein phänomenaler Erfolg war, die sich unter der einheimischen Bevölkerung enormer Beliebtheit erfreute. Im Norden befand sich das Islamische Sultanat der Fulanis, die seit 1823 bis zur Ankunft der Deutschen 1902 die Nachbarvölker angegriffen, ausgeplündert und ermordet hatten. Christliche Mission wurden wie unter den Briten in Nigeria verboten und die Scharia weiterhin erlaubt. Wenn die Deutschen Kamerun nicht besetzt hätten, schrieb der Historiker an der Yale University Harry Rudin 1938 nach seinen Studienreisen Anfang der 1920er, hätten es die Briten oder Franzosen getan. Und wenn die Europäer Kamerun nicht besetzt hätten, hätten es die Fulanis gemacht. Angesichts der Greuel der Fulanis im Norden erklärt dies vielleicht, warum die anderen Eingeborenen sich dem europäischen Imperialismus gegenüber so aufgeschlossen zeigten.

Im Süden herrschten die Deutschen mit Hilfe der Duala-Stämme entlang der Küste, die dadurch wohlhabende Mittelsmänner wurden. Seit 1907 gab es Ratsversammlungen für die Interessen der Afrikaner, eine dezentrale Verwaltung und Verwaltungsschulen für eine lokale Elite. 1914 sorgten in der gesamten Kolonie 2.700 einheimische Soldaten und Polizisten und etwa 200 deutsche Beamte für Sicherheit – etwa ein Mann pro 1.000 Einwohner.

Die deutsche Entwicklungspolitik in Kamerun war am fortschrittlichsten von allen, unter anderem um der Forderung der Berliner Westafrika-Konferenz nachzukommen, Kolonialbesitz müsse mit „effektiver Besetzung“ einhergehen.

Die deutsche Entwicklungspolitik in Kamerun war am fortschrittlichsten von allen, unter anderem um der Forderung der Westafrika-Konferenz 1884/85 (auch Berliner Konferenz genannt) nachzukommen, Kolonialbesitz müsse mit „effektiver Besetzung“ einhergehen. Seit 1894 wurden Landwirtschaft, Industrie und Infrastrukturpläne für die Binnenregionen eingeführt. Ironischerweise wurden diese deutschen Pläne später von Kritikern der Laissez-faire-Einstellung der britischen und französischen Verwaltung ins Feld geführt. „Wo auch immer ich hinkam, lobten die Einheimischen die hervorragende deutsche Verwaltung“, schrieb Harry Rudin. „Der oft gehörte Kommentar über die Deutschen war, sie seien streng, manchmal hart, aber immer gerecht.“

Das würde auch erklären, warum die Kameruner wie die Ostafrikaner beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges so treu zu ihren deutschen Kolonialherren hielten. Einzige Ausnahme waren die Duala an der Küste, die schon vor dem Kriegsausbruch den Aufstand wagten, einfach weil die erfolgreichen Infrastrukturprogramme im Hinterland sie ihres bisherigen Handelsmonopols in der Kolonie beraubt hatten. Die Völker der Hausa und Jaunde im Binnenland kämpften genauso bereitwillig für die Deutschen wie die nigerianischen Stämme für die Briten. Als der Süden des Landes fiel, gingen über 6.000 eingeborene Soldaten und 8.000 andere Eingeborene lieber mit ihren deutschen Kolonialherren in die neutrale spanische Kolonie von Rio Muni ins Exil (das heutige Äquatorialguinea).

Eines der lächerlichsten Beispiele für die Verdrehung der Tatsachen durch die heutige akademische Kolonialwissenschaft sind die Versuche, nachträglich die winzige deutsche „Vorzeigekolonie“ Togoland zu verunglimpfen – die unverhältnismäßig viel Ressourcen und Mühen verbrauchte.

Woodruff Smith nannte Togoland eine „klassische Handelskolonie“, in der europäische Händler unter dem Schutz einer minimalen Staatsgewalt mit den Einheimischen Handel trieben und Rohstoffe abbauten. Die winzige Hauptstadt von Lomé übte nur minimale tagespolitische Kontrolle aus, die alltägliche Verwaltung verblieb bei den Stammesoberhäuptern. Auch Jahre später fanden Sprachwissenschaftler immer noch Redewendungen aus der deutschen Kolonialherrschaft wie „Und der ist für den Kaiser!“, mit dem togolesische Väter ihren unartigen Kindern den Hintern versohlten, oder „Zu Gruners Zeiten gab’s das nicht!“, wie die alten Weiber in einer bestimmten Region seufzten, um auszudrücken, daß früher unter dem Brandenburger Regionalverwalter Hans Gruner alles besser war. Julius Graf Zech, Gouverneur von 1903 bis 1910, war Katholik und Humanist, der es als seine moralische Pflicht ansah, die Lebensbedingungen der Afrikaner zu verbessern. Bismarck hatte mit der Reichsgründung viele Katholiken vor den Kopf gestoßen und ermutigte Zechs humanitäre Bemühungen, um die Gunst der Katholiken in Deutschland wiederzugewinnen.

Die deutsche Herrschaft brachte Stabilität in eine Region, die zuvor von Stammes­kriegen und -feindschaften geplagt war. Im Nordwesten zum Beispiel verbündeten sich die Nawuri und Gonja, die im 15. und 16. Jahrhundert die kleineren Nachbarvölker unterdrückt hatten, und wurden Nutznießer der deutschen Herrschaft. Einer derjenigen, die von der neuen wirtschaftlichen Attraktivität und politischen Stabilität der neuen Kolonie angelockt wurden, war ein brasilianischer Mischling namens Francisco Olympio. Sein Sohn Octaviano bewegte Zech und seine Nachfolger zu politischen Reformen. Franciscos Neffe Sylvanus wurde nationalistischer Anführer und nach der Unabhängigkeit Togos 1960 der erste Präsident. Er wurde auf der Flucht Richtung US-Botschaft 1963 erschossen, und eine 50jährige Abfolge von Militärdiktaturen war die Folge. Wer blickte da nicht wehmütig auf die deutsche Kolonialherrschaft zurück?






Prof. Dr. Bruce Gilley, Jahrgang 1966, studierte Politologie und Ökonomie unter anderem in Princeton und Oxford. Er lehrt an der Staatsuniversität von Portland/Oregon, publiziert in diversen Zeitschriften, ist Träger etlicher Preise und Mitherausgeber des Journal of Democracy.

Foto: Zigarettenbilder mit Motiven aus den verlorenen deutschen Kolonien Deutsch- Südwestafrika und Kamerun, um 1925: „Die deutsche Herrschaft brachte Stabilität in eine Region, die zuvor von Stammes­kriegen und -feindschaften geplagt war.“