© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/20 / 06. März 2020

Mit Warschauer Wunschlisten unterwegs
Beutezüge in Ost und West: Der Historiker Michael Krupke über polnische Zugriffe auf deutsche Archive seit 1919
Oliver Busch

Vor drei Jahren erschien in Polen ein Werk mit dem beziehungsreichen Titel „Lista Wächtera“ („Die Wächter-Liste“). Es befaßte sich mit dem Raub von Kulturgütern, die der SS-Offizier Otto Wächter im deutsch besetzten Polen organisierte. Bücher zu diesem Thema sind in Polen zwar oft Bestseller. Aber die „Lista Wächtera“ der Kunsthistorikerin, TV-Moderatorin und Politikerin Magdalena Ogórek wurde zu einem besonderen Verkaufsschlager, weil sie sich eignete, zeitgleich aus dem Hut gezauberte Reparationsforderungen der PiS-Regierung gegen Deutschland zu untermauern.

Für den Historiker Michael Kruppe haben Machwerke wie das Ogóreks mit Warschauer Geldforderungen gemein, daß die Fakten „mitunter sogar frei erfunden“ und geeignet sind, „das Klima in den deutsch-polnischen Beziehungen zu vergiften“. In seiner Studie über „polnische Ambitionen auf die ost- und westpreußischen Archivbestände“ zwischen 1919 und 1958 (Preußenland, 10/2019) erinnert er daher an ein im Nachbarland gern vergessenes eigenes Sündenregister in Sachen Kulturraub. 

Die polnische „Tradition“ reicht in dieser Kriminalgeschichte zurück bis zum Versailler Vertrag. Unter den Dutzenden von Bestimmungen über die dem Deutschen Reich abgepreßten Gebietsabtretungen vornehmlich zum Vorteil der 1918 wiedererstandenen Republik Polen, findet sich unter den Regelungen zu Danzig auch ein Artikel bezüglich des Kulturguts dieser deutschen Stadt. Demnach sollte „alles Gut des Deutschen Reiches“ an die Siegermächte fallen, die es „nach gerechtem Ermessen“ entweder an die vom Reichsgebiet abgetrennte „Freie Stadt Danzig“ oder an Polen abtreten durften. 

Völkerrechtswidrig zum Eigentum Polens deklariert

Von der Entente derart eingeladen, reklamierte die polnische Seite unter anderem gleich das komplette Danziger Staatsarchiv für sich. Um wenigstens Teile dem drohenden Zugriff zu entziehen, lagerte dessen Direktor bereits ab März 1919 Tausende Akten in die Staatsarchive Stettin und Berlin-Dahlem aus. Eine Maßnahme, die Polens Begierden nur weiter anstachelte. Die während der 1920er Jahre eine Serie von Abkommen im bis heute nicht beigelegten „deutsch-polnischen Archivstreit“ generierte, wobei die deutsche Seite ihre historischen Bestände jedoch fast vollständig vor der Auslieferung zu schützen wußte.

Ab Frühjahr 1945 änderte sich die Lage fundamental. Nicht nur in den im Nachgang der Roten Armee von Polen okkupierten deutschen Ostprovinzen, wo deutsches Kulturgut in Archiven, Museen und Bibliotheken tonnenweise geraubt und völkerrechtswidrig als polnisches Eigentum deklariert wurde. Am 5. Juni 1945 erhielt Polen auch das Recht, in Berlin eine Militärmission einzurichten, um von dort aus, ausgestattet mit Warschauer „Wunschlisten“, auf „Beutezug“ vor allem in der britischen Besatzungszone zu gehen. 

Hätte es ein Einspruch der neuen sowjetischen Herren Nord-Ostpreußens nicht verhindert, wäre den Polen bei diesen illegalen Sondierungen beinahe der wertvollere Teil der nach Goslar ausgelagerten Staatsarchivs Königsberg in die Hände gefallen. Als noch profitabler erwies sich die „Beutegemeinschaft“ mit der UdSSR. Bis 1958 lieferte Moskau von der Roten Armee geplündertes und verschlepptes ostdeutsches Kulturgut nicht an die Bundesrepublik, sondern an den nimmersatten Bruderstaat aus. Ebenso verfuhr die noch bis 1980 westpreußische Archivalien an Polen abgebende DDR, weil sie hoffte, im Gegenzug die nach Krakau verbrachten Schätze der Berliner Staatsbibliothek („Berlinka“, zuletzt JF 35/17) zurückzuerhalten. „Wir wissen heute, daß das ein epochaler Fehler war,“ so Krupke.