© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Eine längst vergessene Diskussion
Migration und Einbürgerung: Die vor zwanzig Jahren beschlossene Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wirkt sich bis heute aus
Björn Harms

Während viele Kritiker der deutschen Einwanderungspolitik die Schuld bei Kanzlerin Merkel und ihrer Grenzöffnung 2015 suchen, wird häufig vergessen, daß einschneidende Veränderungen in Fragen der Migration bereits Jahre zuvor vorangetrieben wurden.

Eine davon ist etwa die vor 20 Jahren getroffene Entscheidung, das Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland von Grund auf zu verändern. Die Statistik beginnt sich ab dem Jahr 2000 deutlich zu wandeln: Zunächst gingen die Einbürgerungen seitdem merklich zurück. Das liegt zum einen daran, daß deutsche Spätaussiedler bis 1999 eine Einbürgerung beantragen mußten, seitdem aber automatisch die Papiere erhalten. Der Hauptgrund für den starken Rückgang ist jedoch ein anderer: Durch die Staatsbürgerreform im selben Jahr mußten weniger Kinder von Ausländern ihre Einbürgerung beantragen, weil sie ohnehin ab der Geburt den deutschen Paß bekamen.

Mindestaufenthalt bei Einbürgerung: acht Jahre

In diesem Zusammenhang ist es notwendig, sich noch einmal mit dem Werdegang des deutschen Staatsbürgerrechts zu beschäftigen. Im Juli 1913 wurde das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz beschlossen. Es verankerte im Deutschen Reich das Abstammungsprinzip („ius sanguinis“), das später auch in der Bundesrepublik galt. Danach war deutscher Staatsbürger, wer mindestens einen deutschen Elternteil hatte.

Auf Initiative der damaligen rot-grünen Bundesregierung, die einen entsprechenden Gesetzesentwurf im Bundesrat durchbekam, galt seit dem 1. Januar 2000 in Deutschland zusätzlich das Geburtsortsprinzip („ius soli“). Seitdem werden Kinder ausländischer Eltern mit der Geburt in Deutschland automatisch Deutsche, wenn ein Elternteil seit mindestens acht Jahren rechtmäßig hier lebt und eine Aufenthaltsgenehmigung besitzt. Entsprechend sanken also seit dem Jahr 2000 die Einbürgerungszahlen. Gleichzeitig hat sich mit der Reform die Aufenthaltsdauer für eine Einbürgerung deutlich verkürzt – von 15 Jahren auf acht Jahre. Die Voraussetzungen: Deutschkenntnisse und ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Zudem sah das Gesetz erstmals eine weitgehende Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit vor. Zunächst galt für Kinder ausländischer Eltern die Verpflichtung, sich bis zu ihrem 24. Geburtstag zwischen der deutschen und der ausländischen Staatsangehörigkeit der Eltern zu entscheiden. Seit 2014 ist auch diese Optionspflicht entfallen. Wer sich bei Vollendung seines 21. Lebensjahres mindestens acht Jahre in Deutschland aufgehalten oder sechs Jahre eine Schule besucht hat, erhält die deutsche Staatsbürgerschaft, sofern er sie nicht schon besitzt, und kann seine zweite Staatsbürgerschaft behalten.

Insgesamt hat es laut Statistischem Bundesamt von 2000 bis 2018 rund 2.320.000 Einbürgerungen gegeben. Der größte Teil (674.422 Personen) stammt aus der Türkei. Auf den Positionen 2 bis 7 bei den Einbürgerungen folgen Iraner (96.747), Polen (93.264),  Ukrainer (66.456), Iraker (66.241), Afghanen (63.746) und Russen (62.320).

Interessant ist insbesondere der Anstieg derjenigen, die ihre zweite Staatsbürgerschaft nicht aufgeben wollen. Im Jahr 2003 behielten durchschnittlich 40,6 Prozent ihren alten Paß, der Anteil stieg von 51 Prozent (2006), über 53,7 Prozent (2009) auf 61,4 Prozent im Jahr 2017. Auf ähnlichem Niveau bewegt sich die Zahl für 2018 (59,3 Prozent). Ein Grund hierfür ist auch die Möglichkeit für EU-Bürger, ihre zweite Staatsangehörigkeit bei Einbürgerung behalten zu dürfen.

Während noch im Jahr 2003 nur 3,4 Prozent der eingebürgerten Polen ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit behielten, waren es nach dem erfolgten Beitritt zur Europäischen Union ein Jahr später schon 69,5 Prozent. Mittlerweile liegt die Zahl jedes Jahr bei nahezu 100 Prozent. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei eingewanderten Rumänen. Lag die Zahl derjenigen, die die rumänische Staatsangehörigkeit behielten, 2006 bei 2,8 Prozent, waren es nach dem EU-Beitritt ein Jahr später 92,4 Prozent. Auch hier weist die Statistik für die vergangenen Jahre jeweils knapp unter 100 Prozent aus.

„Die doppelte Staatsbürgerschaft ist grundsätzlich abzulehnen“, kritisiert der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer, Mitglied im Ausschuß für Arbeit und Soziales, gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „Unser Staatsangehörigkeitsrecht darf weder Rosinenpickerei noch ein mehrfaches Wahlrecht ermöglichen. Die Anforderungen für eine Einbürgerung müssen deutlich erhöht werden. Es kann nicht sein, daß die deutsche Staatsbürgerschaft verramscht wird.“ Für Springer ist klar: „Wer ‘Ja zu Deutschland’ sagt und gerne hier leben möchte, von dem kann man auch die Entscheidung für die deutsche Staatsbürgerschaft unter Ablegung seiner alten Staatsbürgerschaft erwarten.“

Gerade letzteres ist jedoch mit einem Problem verbunden. Viele Eingebürgerte können ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft gar nicht abgeben. Gegenwärtig verweigern mehrere Hauptasylländer – darunter Syrien, Afghanistan, Iran, Marokko, Tunesien, Algerien, Eritrea und Libanon – die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft. Die doppelte Staatsbürgerschaft wird damit zwangsläufig vom deutschen Staat hingenommen. Zudem ist die Mehrheitstaatigkeit bei Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen generell akzeptiert.

Somit dürfte die Statistik der Einbürgerungen vor allem mit Blick auf die nächsten Jahre interessant werden, wenn die knapp zwei Millionen seit 2015 nach Deutschland gekommenen Migranten ihr Recht auf einen deutschen Paß einfordern könnten. Die dafür nötige Acht-Jahre-Aufenthaltsfrist kann sich bei erfolgreichem Besuch eines Integrationskurses auf sieben reduzieren, bei besonderen Integrationsleistungen (z.B. überdurchschnittliche Deutschkenntnisse oder ehrenamtliches Engagement) auf sechs Jahre. Die Zahlen aus bestimmten Herkunftsländern könnten also bereits ab 2021 rasant ansteigen.

Unterschriftenliste 1998/99 sorgt für heftige Debatte

Die Staatsbürgerreform im Jahr 2000 brachte noch eine weitere Veränderung mit sich: In der Statistik brachen in der Folge die Geburten nichtdeutscher Kinder ein. Wurden 1999 – nach dem alten Recht – noch 95.000 ausländische Babys in Deutschland registriert, waren es ein Jahr später laut Statistischem Bundesamt nur noch etwa halb so viele (knapp 50.000). Die Zahlen sanken weiter bis auf den Tiefststand 2006 (29.000). Erst mit dem Einsetzen der Migrationskrise stiegen sie wieder an – von 52.000 Neugeborenen im Jahr 2014 auf 105.000 vier Jahre später.

Was ebenfalls zur Geschichte rund um das Staatsbürgerrecht gehört: Noch in den Jahren 1998/99 sorgte eine Unterschriftenaktion der CDU/CSU gegen die sich abzeichnende Reform bundesweit für heftige Debatten. Initiiert hatten die Kampagne unter anderem Wolfgang Schäuble und Edmund Stoiber, in Hessen brachten die Unterschriften Roland Koch sogar den Sieg bei der Landtagswahl.

In der Unions-Bundestagsfraktion kam es fortlaufend zu heftigen Auseinandersetzungen mit einer Gruppe Nachwuchsparlamentarier, den sogenannten „jungen Wilden“, die sich den Konservativen entgegenstellten und für die doppelte Staatsbürgerschaft aussprachen. Unter ihnen befanden sich etwa Peter Altmaier, Eckart von Klaeden, Norbert Röttgen oder Hermann Gröhe. Alles Politiker, die später in der Ära Merkel maßgebliche Funktionen einnehmen sollten. Damals bildeten sie in der Union noch eine Minderheitsmeinung ab. Schlußendlich jedoch kam es im Bundesrat zu einem Kompromiß mit Rot-Grün. Die Gesetzesänderung war fortan beschlossene Sache. Ihre Folgen wirken bis heute nach.