© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

„Wir kommen nicht durch“
Migrationskrise an der EU-Außengrenze: JF-Reportage aus dem türkisch-griechischen Grenzgebiet am Evros / Griechen halten die Stellung
Hinrich Rohbohm / Marco Pino

Entschuldigend hebt der türkische Tankstellenmitarbeiter die Hände. Er blickt auf zwei große Kühlschränke, in denen normalerweise Snacks und Getränke lagern. Alles leer. Er zeigt hinüber auf die andere Straßenseite. Dorthin, wo am Ufer der Tunca, des größten Zuflusses des Evros, vor den westlichen Toren der türkischen Stadt Edirne, Tausende Migranten ausharren, um auf ihre Chance zum Grenzübertritt nach Griechenland zu warten. Gestenreich gibt er zu verstehen: Die Neuankömmlinge sind die Ursache für die leeren Regale.

Nur noch fünf Kilometer sind es von hier aus zum türkischen Grenzübergang bei Pazarkule. Doch die Migranten gehen nicht weiter. Statt dessen richten sie sich am Fluß und auf dem Deich in Sichtweite der 150.000-Einwohner-Großstadt, die früher einmal Adrianopel hieß und im Mittelalter Hauptstadt des Osmanischen Reiches war, mit Zelten, Planen und Lagerfeuern darauf ein, länger zu bleiben. Sie schaffen Holz herbei. Dünne Zweige zum Verbrennen. Dicke Äste zum Bau von Unterständen.

Die meisten von ihnen sind junge Männer. Doch auch viele Frauen und Kinder sind unter ihnen. Geflohene Syrer ebenso wie Migranten aus Afghanistan, Pakistan, dem Iran und dem Irak. Ebenfalls darunter: Afrikaner, die den türkisch-griechischen Grenzfluß als alternative Route nutzen, um den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zu meiden.

„Wir kommen nicht durch. Die wenden auch Gewalt an. Wir wurden geschlagen“, klagt Fouad, ein irakischer Migrant, der verbotenerweise versucht hatte, über die „grüne“ Grenze nach Griechenland zu gelangen. Einige Migranten wollen es wieder versuchen. Sie haben sich vermummt, stehen in einer Gruppe eng beieinander und beratschlagen sich. Fouad ist optimistisch. „Wir werden immer mehr. Irgendwann werden sie schon die Grenze aufmachen, der Druck wird stärker“, ist er überzeugt.

Schleuser organisieren     die Anreise der Migranten

Tatsächlich kommen regelmäßig Taxis und Kleinbusse angefahren, aus denen weitere Migranten steigen. Die meisten kommen aus dem 220 Kilometer entfernten Istanbul. Ihre Anreise wird in dem Istanbuler Stadtteil Aksaray organisiert, einer Schleuserhochburg, in der ein Großteil der Schleppergeschäfte abgewickelt wird (siehe Reportage in JF 45/15).

Besonders nachdem die Reisebusse vom zentralen Istanbuler Fernbusbahnhof „Esenler“ nicht mehr über die Grenze kommen, floriert in Aksaray das Geschäft der Schleuser. Ihre „Kundschaft“ lassen sie dabei offenbar über die erfolgte Grenzschließung im unklaren. „Was, die Grenze ist zu?“, ruft ein Migrant aus Eritrea entsetzt. Er war gerade erst angekommen, in dem Glauben, daß er jetzt problemlos in die EU einreisen könne. „Die Grenzöffnung hatte sich überall schnell herumgesprochen. Da habe ich mich dann auch aufgemacht.“

Immer wieder neue Migrantengruppen brechen mit großen Rucksäcken, zusammengerollten Isomatten und Plastik-Tragetaschen Richtung Staatsgrenze auf. Nur wenige hundert Meter entfernt steht eine Polizeistreife vor der Brücke über den Fluß Evros, der hier, an seinem türkischen Abschnitt, mit seinem türkischen Namen Meriç heißt und den die Bulgaren wiederum Mariza nennen. Sie beobachtet die Szenerie, ohne jedoch Anstalten zu machen, einzugreifen. Warum, wird drei Kilometer weiter klar. Ein Dutzend türkischer Polizisten hat an einer Kreuzung die Zufahrt Richtung Grenzstation abgeriegelt. Ankommende Migrantengruppen weist sie an, umzukehren. Offenbar sollen keine weiteren Migranten mehr ins Niemandsland gelangen, um den türkisch-griechischen Grenzkonflikt nicht noch mehr anzuheizen und damit die Lage nicht vollkommen außer Kontrolle gerät.

Vor der Absperrung steht ein Pulk Journalisten. „Die lassen niemanden mehr ins Grenzgebiet“, bestätigt einer der türkischen Kollegen. An der Straße stauen sich Busse und Taxis, die zuvor noch Migranten bis zum Grenzübergang und darüber hinaus gebracht hatten. Nur Polizei, Feuerwehr, Rettungswagen und Militärfahrzeuge kommen jetzt noch durch. Entfernt sind Schüsse zu hören. Weitere gepanzerte Militärfahrzeuge mit Metallgittern vor den Fensterscheiben fahren ins Grenzgebiet. Rettungswagen kommen von dort wieder herausgefahren. Im Niemandsland zwischen der türkischen und griechischen Grenze spielen sich mittlerweile dramatische Szenen ab.

Migranten, die versuchen, mit Bolzenschneidern den Grenzzaun zu öffnen. Sie haben Seile an den Metallgittern des Zaunes befestigt, versuchen ihn durch Ziehen einzudrücken. Die griechischen Grenzschützer reagieren, feuern Rauchbomben und Tränengas ab. Die Migranten antworten mit Steinwürfen. Und sitzen gleichzeitig in der Falle. Denn während die Griechen ihre Grenze verteidigen und die Migranten nicht ins Land lassen, verwehren türkische Soldaten Umkehrwilligen offenbar die Wiedereinreise.

Und so werden besonders die Migranten des „Niemandslands“ zum Spielball der Politik. Denn für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdo?an wird die Luft zusehends dünner, seine Zustimmungswerte in der türkischen Bevölkerung sinken. „My Präsident is großer Dummkopf“, sagt uns ein Ladenbesitzer im Zentrum von Istanbul. „Er hat vier Millionen Migranten ins Land gelassen. Sie arbeiten hier zu Dumpingpreisen. Aber meinen gut ausgebildeten Söhnen nehmen sie die Arbeitsplätze weg und machen die Löhne kaputt“, schimpft der Mann. Weil für die Migranten auch Wohnraum her müsse, seien die Mieten stark gestiegen. Immer mehr Türken denken so wie er. Mit der plötzlichen Aufkündigung des ohnehin stets fragilen EU-Türkei-Deals verschafft sich Erdo?an somit auch innenpolitisch etwas Luft.


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Ein makabres Spiel, das die Griechen jedoch so nicht mitspielen wollen. Denn für Willkommenskultur deutscher Art gibt es auf der anderen Seite des Evros keine Mehrheiten. Im Gegenteil: „Sie haben es versucht, aber wir haben es abgewehrt!“, beschreibt ein Tankwart an der griechischen Grenzstation von Kastanies mit erkennbarem Stolz die Abwehr des Migrantenansturms.

„Die suchen sich nun andere Wege“, unkt ein Polizist

Normalerweise herrscht hier reger Verkehr. Denn auf dem gesamten gut 120 Kilometer langen Grenzabschnitt zwischen Griechenland und der Türkei gibt es nur zwei offizielle Übergänge. Einen im Süden, nicht weit entfernt von der Ägäis, am Ende der griechischen Autobahn 2. Und eben jenen hier im Norden im Dreiländereck Griechenland, Türkei, Bulgarien, zwischen Kastanies und der türkischen Stadt Edirne. Ansonsten bildet fast durchweg der Fluß Evros die Grenze.

Doch zwischen Edirne und dem griechischen Kastanies macht der Fluß eine Biegung, dort reicht das türkische Staatsgebiet über das Gewässer hinaus. Hier haben die Griechen einen Zaun errichtet. Daß die zahlreichen Migranten, die nach Erdo?ans Ankündigung, die Grenze zu öffnen, ausgerechnet hierhin gebracht wurden, kommt den griechischen Grenzschützern durchaus zugute. Schnell wurde die bestehende Barriere mit Stacheldraht verstärkt, das Personal deutlich aufgestockt. Auf 15.000 Personen schätzt ein Grenzpolizist die maximale Anzahl derer, die auf der anderen Seite gleichzeitig Einlaß begehrten. Und befürchtet: „Die werden sich jetzt andere Wege suchen, über den Evros.“ Der Fluß führe im Moment nur wenig Wasser, was illegale Grenzübertritte erleichtere. Und neu ist das nicht. Schleuserrouten über den Fluß gibt es schon lange. Nur droht es jetzt auf einmal deutlich mehr zu werden.

Auf griechischer Seite gilt für den gesamten Grenzabschnitt: die letzten Kilometer vor dem Evros sind militärisches Sperrgebiet. Militärfahrzeuge patrouillieren, Hubschrauber fliegen die Grenze regelmäßig ab. 75.000 Migranten sind hier gewiß nicht unerkannt in die EU eingedrungen, wie von türkischer Seite behauptet. Wie es aussieht, wenn solche Menschenmassen illegal migrieren, hat das Jahr 2015 gezeigt. Solche Bilder sucht man aktuell in der griechischen Grenzregion vergeblich. Noch. Doch auch die griechische Darstellung, an die 40.000 illegale Einreisen verhindert zu haben, erscheint fragwürdig. Es ist wohl auch ein kleiner Propagandakrieg, den sich Türken und Griechen hier liefern.

Am Grenzübergang in Kastanies sieht das gelegentlich sogar wie ein richtiger Krieg aus. Als die Migranten spüren, daß Erdo?ans Versprechen an griechischem Widerstand scheitert, wird es zunehmend gewalttätig. Immer wieder versuchen Gruppen junger Männer, den Zaun zu überwinden. Man hört Geschrei, Schüsse, Sirenen. Die Griechen setzen Rauchbomben, Tränengas und Gummigeschosse ein. Die türkische Grenzpolizei wiederum hilft den Migranten, gibt ihnen Werkzeuge, feuert gar Rauchbomben auf griechische Grenzschützer zurück, wie in Videos zu sehen ist, die im griechischen Fernsehen ausgestrahlt werden. Videos, mit denen sich jene Stimmung weiter festigen dürfte, die der Tankwart in Kastanies exemplarisch wie folgt zum Ausdruck bringt: „Wir lassen uns von Erdo?an nicht erpressen.“

An bulgarischer Grenze    nur normaler Reiseverkehr

Derweil hat die griechische Regierung beschlossen, den zwölf Kilometer langen Grenzzaun bei Kastanies zu verstärken und auf 40 Kilometern parallel zum Fluß auch Stacheldraht zu verlegen. Ob das reicht, werden die kommenden Monate zeigen. Die jährliche „Hochsaison“ für illegale Migration steht erst noch bevor.

Bulgarien hat schon seit 2014 mit dem Bau von Grenzsperren begonnen. Der 269 Kilometer lange Grenzabschnitt zur Türkei ist inzwischen fast durchgängig mit einem drei Meter hohen und stacheldrahtbewehrten Grenzzaun versehen. Das weiß auch der Großteil der Migranten: An dem Abschnitt der Fernstraße E80, die Edirne mit dem 18 Kilometer entfernt liegenden, bei weitem verkehrsreichsten Grenzübergang der Region bei Kap?kule/Kapitan Andreewo verbindet und die hinter der Grenze weiter hinein nach Bulgarien bis nach Plowdiw und Sofia führt, sind nur ganz vereinzelt Gruppen von Migranten zu Fuß unterwegs, die auf diesem Wege ihr Glück versuchen wollen. Sie werden dort nicht durchkommen.