© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Eine Freiheit, die ausstrahlt
Texte aus dem inneren Exil: Monika Marons gesammelte Essays aus drei Jahrzehnten
Thorsten Hinz

Monika Marons Essaysammlung wird mit einem undatierten Brief an eine Freundin eröffnet, der sich auf ein Telefonat vom Vortag bezieht. Während die Bekannte sie mit Neuigkeiten aus dem Literaturbetrieb und von einem offenbar wichtigen Kongreß versorgte, mußte Maron, die weitab vom Schuß auf dem Land weilte, sich auf Erzählungen beschränken, die ihren Hund sowie die Beobachtung eines aufgeregten Ameisengeschwaders betrafen. Nun plagen sie Zweifel, ob sie sich verständlich machen konnte oder ob die Freundin von ihr den Eindruck fortschreitender Verblödung bekommen hat.

Maron versucht zu erklären, warum sie „ein Gefühl von Heiligkeit“ umhüllt, wenn sie nachts vor ihrem Haus sitzt und sich, obwohl „keine Naturschwärmerin“, als Teil der sie umgebenden Tier- und Pflanzenwelt fühlt. Sie zitiert aus dem 1902 publizierten „Chandos-Brief“ des damals 28jährigen Hugo von Hofmannsthal. Der feinnervige Dichter befand sich in einer Schaffenskrise, er fühlte sich gleichsam aus der Welt gefallen. Sie ergab für ihn kein sinnvolles Ganzes mehr, zu dem er sich mit seinen immerhin enormen sprachlichen Möglichkeiten in Beziehung setzen konnte. Im Brief vollzog er eine Wende von den Abstraktionen zur Dingwelt, zu den elementaren Tatsachen und Überlieferungen. Das beseligende Gefühl, in der Welt wieder aufgehoben zu sein, weckte eher das Zirpen einer todesnahen Grille als das Dröhnen der Orgel, eher ein einsames Hirtenfeuer als der bestirnte Himmel. Das war keine Flucht aus der Gegenwart, sondern eine Wiederannäherung unter geläuterten Voraussetzungen.

Für den Leser, der nicht bis zum Publikationsnachweis vorblättert, bleibt zunächst offen, ob Maron den Brief in der DDR, in der BRD oder nach der Wiedervereinigung verfaßt hat. Aus dem übernächsten Aufsatz, „Krumme Gestalten, vom Wind gebissen“, erfährt er dann, daß sie sich in der östlichsten Ecke Vorpommerns, hart an der Grenze zu Polen, ein verfallenes Bauernhaus gekauft hat. Es steht in einer prosaischen, fast baumlosen Gegend. Diese – wie Maron traurig-schön formuliert – „landschaftliche Kriegswaise“ wurde modelliert aus „zu viel Himmel, zu vielen Feldern und Wiesen und Menschen, die ihrer Landschaft enger anzugehören scheinen als der Zeit, die über sie herrscht“. Es ist alles andere als ein ländliches Fluchtidyll. Die jungen Leute ziehen der Arbeit wegen in die westlichen Bundesländer, nach Frankreich oder auf Ölplattformen vor Norwegen. Doch trotz der Umwälzungen herrscht hier der machtvolle Zyklus der Natur. 

Der unmittelbare Stoffwechsel mit der Natur – wozu auch die wortlose Verständigung mit der Kreatur, mit ihrem Hund Bruno, gehört – bildet das Leitmotiv der meisten Aufsätze. Er ist Marons Art und Weise, durch den Hinterausgang einen Weg zurück ins Paradies zu suchen, aus dem der Mensch vertrieben wurde. So sinniert sie, ob man nicht, statt Zeitung zu lesen, sich lieber mit den Eigenarten des Hirschkäfers beschäftigen solle.

Die Texte beschreiben nicht nur, sie konstituieren ein inneres Exil, aus dem die Autorin die Verwerfungen draußen um so schärfer wahrnimmt. Nachdem sie 1988 mit einem Dreijahresvisum aus der DDR in die Bundesrepublik gewechselt war, wurde ihr schnell klar, daß sie mit den linken und feministischen Bewegungen in Hamburg keine wunderbare Freundschaft schließen würde. Deren Neigung, sich eine Deutungshoheit über die DDR und den Rest der Welt anmaßen und die Probleme und Konflikte der anderen gemäß eigenen Interessen und Befindlichkeiten zurechtzustutzen, irritierte sie. In der gleichfalls abgedruckten Dankrede zum Kamenzer Lessing-Preis 2013 verurteilt sie das Bündnis der sogenannten Toleranten mit islamistischen Scharfmachern, die gemeinsam muslimische Kritiker der Umma pathologisieren.

Daneben gibt es auch viel Komisches: Früher mokierten westdeutsche DDR-Besucher sich über das Wort „Jahresendfigur“, das offiziell den „Weihnachtsengel“ ersetzte. Heute sind Bestrebungen im Gange, Vater und Mutter durch „Elter I“ und „Elter II“ zu ersetzen. Der Leser kann sich fragen, welches System das verrücktere ist.

Ihrer doppelten deutsch-deutschen Erfahrung verdankt Maron einen Erfahrungsvorsprung. Im November 2019 erschien in der Neuen Zürcher Zeitung, die inzwischen – übertrieben zwar, aber tendenziell zutreffend – das „neue Westfernsehen“ genannt wird, ihr Aufsatz „Unser galliges Gelächter“. Die verzweifelte Heiterkeit war eine DDR-typische Variante, aufgestaute Frustrationen abzulassen, nachdem man sich in vertrauter Runde über die neuesten Absurditäten des Systems ausgetauscht hatte. Heute wird diese Art von Gelächter wieder Teil des Alltags.

Natürlich sei die Bundesrepublik keine Neuauflage der DDR. Bücher könnten nicht einfach verboten werden, Schriftsteller würden nicht verhaftet. „Aber jenseits des Gesetzes gibt es eine Deutungsmacht, die blindlings mit Verdächtigungen und Diffamierungen um sich werfen darf, sobald das, was sie als Wahrheit ausgibt, in Frage gestellt wird.“ Flugs distanzieren Verlage sich von ihrem Autor, werden Künstler von Ausstellungen ausgeschlossen und brüllen radikale Gruppen im Hörsaal Professoren nieder. Kurzum, „es gibt auch im Rechtsstaat Möglichkeiten, Menschen wegen unerwünschter Meinungen die Existenz zu erschweren oder gar zu zerstören“. Die alte Ost-West-Rechnung: Unterdrückung dort, Freiheit hier – so einfach geht sie nicht mehr auf. Was folgt daraus? Zum Beispiel, daß es sinnlos ist, Erfüllung, inneren Frieden gar, im Engagement für oder gegen ein politisches System zu suchen.

Monika Maron, Jahrgang 1941, reflektiert in einem Aufsatz auch das Älterwerden. Müde geworden ist sie, ausweislich der hier versammelten Texte, keineswegs, doch sie ist einem Zustand näher gekommen, der sich mit weiser Distanz oder distanzierter Weisheit umschreiben läßt. Es ist ein Zustand innerer Freiheit, der nach außen strahlt.

Monika Maron: Krumme Gestalten, vom Wind gebissen. Essays aus drei Jahrzehnten. Edition Buchhaus Loschwitz, Dresden 2020, broschiert, 112 Seiten, 17 Euro