© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

„Wo das Herz so frei dem Menschen schlägt“
Bestseller: In Eugen Ruges Stalinismus-Abrechnung „Metropol“ sind einige Aspekte beklemmend aktuell
Dietmar Mehrens

Die Sonne, die uns täuscht“ ist der deutsche Titel eines Spielfilms von Nikita Michalkow, der 1995 mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. „Die Sonne, die uns trügt“ ist, in offenkundiger Verneigung vor dem Werk des russischen Regisseurs, der Mittelteil des Romans „Metropol“ von Eugen Ruge überschrieben. Die trügerische Sonne, die nicht wärmt, sondern die Welt in ein kaltes, lebensfeindliches Licht taucht – damit ist in beiden Fällen Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili gemeint, besser bekannt als Stalin.

Beide Werke thematisieren die von dem sowjetischen Despoten veranlaßte Vernichtungswelle der Jahre 1936 bis 1938. In „Metropol“ ist er keine handelnde Figur und doch, wie die Sonne, allgegenwärtig: „Stalin, zu dem wir in Liebe und Freundschaft erglühn“, wie es in einer sowjetischen Propagandahymne heißt. Mit einer gehörigen Portion tragischer Ironie wird an mehreren Stellen des Romans aus solchen Speichelleckerliedern zitiert, wie sie in kommunistischen Terrorregimes, deren Führer Personenkultstatus genießen, bis heute gang und gäbe sind. Eine andere Textzeile lautet: „Denn es gibt kein andres Land auf Erden, wo das Herz so frei dem Menschen schlägt.“

Die Tragik besteht in Ruges Schilderung darin, daß, noch während solche Lieder erklingen, über vielen, die unverdrossen daran glauben, daß es sich dabei nicht um arglistige Täuschungen handelt, bereits das Damoklesschwert der stalinistischen Parteisäuberungen hängt. Tausende Getreue der kommunistischen Bewegung sollten der Autokraten-Paranoia des Diktators zum Opfer fallen.

Die Geschichte der eigenen Familie thematisiert

Wie in seinem bereits erfolgreich fürs Kino verfilmten Romandebüt arbeitet Ruge auch in seinem neuen Buch die Geschichte seiner eigenen Familie auf. Dazu unternahm er 2015 und 2017 Recherchereisen nach Moskau. In einem Nachwort schildert der Autor die teilweise aufregenden Entdeckungen, die er dort, etwa bei der Fahndung nach einer früheren Geheimdienstzentrale, machte.

In seinem 2011 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Erstling „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ fiktionalisierte der 1954 in Rußland geborene Schriftsteller Fakten und Biographien und verwob sie zu einem grandiosen Mehrgenerationenroman. Der Leser lernte, als Vertreter der ältesten Generation, Wilhelm und Charlotte kennen.

In „Metropol“ trifft er sie wieder: Beide sind überzeugte Kommunisten und wollen der als richtig erkannten Sache treu dienen. Die Exildeutschen sind in der russischen Hauptstadt bei der OMS eingesetzt, dem geheimnisumwobenen Nachrichtendienst der Kommunistischen Internationale (Komintern), der 1937 aufgelöst wurde. Im Jahr der großen Säuberung hieß das: Nicht nur der Geheimdienst als solcher wurde liquidiert, sondern auch der Großteil des Personals. 

Das Elend beginnt mit einer beunruhigenden Zeitungsmeldung: Der in der kommunistischen Bewegung engagierte jüdische Geschichtsprofessor Alexander Emel sei als Trotzkist entlarvt und verurteilt worden. Wilhelm, der mit Charlotte in antibourgeoiser wilder Ehe zusammenlebt, bringt die bedrohliche Konsequenz dieser Verurteilung auf den Punkt: „Wir sind mit einem Volksfeind befreundet.“ Das Paar reagiert sofort und gibt schriftliche Erklärungen ab, in denen beide versichern, von Emels Verschwörungsabsichten keine Ahnung gehabt zu haben. Daß die gegen Emel vorgebrachten Anklagepunkte fingiert sein könnten, kommt ihnen nicht in den Sinn. Zehn Tage später, im Oktober 1936, werden sie von ihrem Dienstposten entfernt und bis auf weiteres auf Kosten der Komintern im Moskauer Hotel Metropol untergebracht. Eine quälend lange Zeit der Ungewißheit beginnt.

Im selben Haus hat auch eine weitere zentrale Figur des Romans vorübergehend Quartier genommen: Wassili Wassiljewitsch Ulrich, Vorsitzender des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR, eine Art sowjetischer Roland Freisler, der die meisten der von ihm verhängten mehr als 30.000 Todesurteile ohne offizielle Verhandlung unterschrieb. In einem Nebenstrang schildert Ruge ihn als selbstgefälligen Epikureer, der unter der eigenen Fettleibigkeit mehr leidet als unter Gewissensqualen angesichts des furchtbaren Unrechts, das er den von ihm Abgeurteilten antut.

Die Erlebte-Rede-Passagen, in denen der Autor die seelischen Abgründe des mächtigen Richters ausleuchtet, gehören zu den Stellen im Buch, die am meisten Wirkung entfalten, was an der Faszination bei gleichzeitiger Banalität des Bösen liegen dürfte, das der zum obersten Militärgericht abgeordnete ausgebildete Kaufmann personifiziert. Die Ulrich-Passagen sind der Haupthandlung zwischengeschaltet; im Mittelpunkt stehen Charlotte und ihr Lebensgefährte, die der Großmutter und dem Stiefgroßvater des Autors nachempfundenen Protagonisten. Zunehmend verunsichert und seelisch zerrüttet, in völliger Unklarheit darüber, was mit ihnen geschehen soll und wann, werden sie Teil einer bizarren Hotelgesellschaft der Kaltgestellten, für die das Metropol zu einer Art Vorhölle wird. Man sieht sich täglich im Speisesaal, man kennt sich, aber man vertraut sich nicht. Denn: Jeder kann des anderen Sargnagel sein.

Das Blendwerk totalitärer Ideologen

Es entsteht eine klaustrophobische Atmosphäre des Aus-der-Zeit-Gefallenseins, das in den besten Momenten des Romans Parallelen zur gespenstischen Davoser „Zauberberg“-Welt in Thomas Manns gleichnamigem Roman aufweist, auch wenn Ruge kein Sprachakrobat ist wie der Lübecker Nobelpreisträger, sondern sich eines eher nüchtern-analytischen Stils bedient, der zuweilen den klar denkenden und exakt arbeitenden Mathematiker verrät, zu dem der Autor früher einmal ausgebildet wurde. Gleichwohl gelingen ihm immer wieder Textabschnitte von poetischer Schönheit, etwa wenn er im Schlußkapitel den letzten Tanz des einarmigen Sepp mit Charlotte auf der Silvesterfeier 1937, in dem Lebenslust und Verzweiflung eine rauschhafte Symbiose eingehen, so schildert, daß er zu einem sinnlichen Erlebnis wird.

Nach und nach schrumpft die Gruppe, weil immer mehr Gäste von Stalins Schergen verhaftet werden. Einen – authentischen – Gastauftritt in dem Hotel der Verdammten hat im Januar 1937 Lion Feuchtwanger. Der berühmte Romancier – der Autor nennt ihn nach heutigem Sprachgebrauch einen „linksliberalen Schriftsteller“ – blamiert sich mit einer Stalin-Eloge. Sie liefert Anschauungsunterricht dafür, daß Intelligenz und ein hohes Bildungsniveau nicht davor schützen, dem Blendwerk totalitärer Ideologen auf den Leim zu gehen und das Offensichtliche zu ignorieren.

Und das ist: Am Anfang „waren sieben Leute im Politbüro: Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Rykow, Tomski und Stalin. Von den sieben ist einer heute der unumstrittene Führer und fünf sind Volksfeinde.“ Warum wagt trotzdem niemand an Stalin zu zweifeln? „Die Menschen glauben, was sie glauben wollen“, lautet die Erklärung des Militärrichters Ulrich. Er wird damit zum Sprachrohr des Autors, den man während der Arbeit an dem Roman förmlich den Kopf darüber schütteln sieht, „was Menschen zu glauben bereit, zu glauben imstande sind“, und der vor ideologischen Scheuklappen warnt. „Natürlich sind es immer die anderen: die Irrgläubigen. Natürlich wissen wir selbst über die Wahrheit Bescheid. Wir sind im Besitz der Moral“, schreibt der Abolvent der Berliner Humboldt-Universität in seinem persönlich gefärbten Nachwort, ehe er seine Pointe setzt: „Ich bin sicher, daß auch Wassili Wassiljewitsch Ulrich das glaubte.“

Mit dieser Warnung vor dem Hochmut der Verblendeten und vor dem totalen Zugriff eines Weltdeutungsentwurfs auf Denken und Fühlen des Individuums strahlt Ruges historische Aufarbeitung wie ein Fanal mitten hinein in unsere gesellschaftliche Gegenwart mit ihrem wachsenden Konformitätsdruck und ihren hysterischen Hexenjagden. Wer „Metropol“ gelesen hat, wer bei der Lektüre miterleben mußte, wie Menschen mit Wortschöpfungen aus dem Wahrheitsministerium eingeschüchtert und schikaniert werden, muß unruhig werden. Wer mit erleiden mußte, wie jeder mit „Framing“-Begriffen wie „rechter Abweichler“, „Trotzkist“ oder  „konterrevolutionär“ im Nu zum Volksfeind erklärt werden konnte, für den bekommen deren aktuelle Pendants „Neue Rechte“, „Rassist“ oder „populistisch“ auf einmal einen ekligen Beigeschmack, der bei sensiblen Gemütern Würgereize auslösen dürfte. Der Stalinismus ist Geschichte. Und Geschichte neigt dazu, sich zu wiederholen.