© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Politische Romantiker erheben sich gegen die Moderne
Selbstmorde: Die Schriftsteller Pierre Drieu la Rochelle und Börries von Münchhausen wählten Mitte März 1945 den Freitod
Oliver Busch

Mitte Februar 1945 erreicht Marion Gräfin Dönhoff auf ihrem Ritt nach Westen das Schloß Varzin in Hinterpommern. Einen großen Besitz, den Otto von Bismarck aus der Dotation für seine Verdienste im preußisch-österreichischen Krieg von 1866 erworben hatte. Auch in Varzin ist zwar schon alles im Aufbruch, aber die 80jährige Schwiegertochter des Reichsgründers, Sybille Gräfin von Bismarck, „eine kleine, feingliedrige, höchst amüsante uralte Dame“, trifft Dönhoff noch an. Sie habe sich geweigert, zu flüchten, obwohl ihr klar gewesen sei, daß sie den Russensturm nicht überleben würde. Aber sie wollte ihn auch nicht erleben. Deswegen habe sie im Park bereits ihr Grab ausheben lassen. Als sich vierzehn Tage später die sowjetische Kriegsfurie Varzin näherte, soll sich Gräfin Bismarck in diesem Grab erschossen haben.

Den Selbstmord als privaten Notausstieg aus dem Untergang des Reiches wählten in jenen Wochen Zehntausende. Zunächst in den Ostprovinzen. Während der Apokalypse diesseits der Oder dann auch in Mitteldeutschland, wo Ende April 1945 Berlin zum Zentrum der Selbstmordepidemie wurde. Wie nachzulesen ist in Florian Hubers einiges an Nervenstärke fordernder Chronik des „Untergangs der kleinen Leute 1945“ („Kind, versprich mir, daß du dich erschießt“, 2015).

Ihre Biographien wecken mehr Interesse als ihr Werk

Hubers Rekonstruktion dieses jahrzehntelang aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängten Kapitels deutscher Geschichte bietet für das Phänomen ein Bündel von Erklärungen an, unter denen neben der Furcht vor drohender oder der Erfahrung von erlittener Gewalt der Verlust des Lebenssinns das Hauptmotiv vieler Verzweifelter war. Bei ihnen handelte es sich zumeist um einen Bilanzsuizid, so wie ihn damals zwei prominente Schriftsteller fast gleichzeitig begingen. Am Abend des 15. März 1945 schluckte Pierre Drieu la Rochelle, ein literarischer Exponent der „Kollaboration“, in seiner Pariser Wohnung den Inhalt von drei Röhrchen Schlaftabletten und drehte den Gashahn auf. Börries von Münchhausen, Schloßherr auf Windischleuba bei Altenburg, der „Erneuerer der deutschen Balladendichtung“, wählte bei seinem zweiten, letalen Versuch ebenfalls die eher weibliche, von der Gräfin Bismarck allerdings als unritterlich verschmähte Giftwaffe. Er nahm in der Nacht vom 14. zum 15. März eine höhere Dosis Veronal und verschied, ohne daß ein Auspumpen des Magens noch geholfen hätte, am Nachmittag des 16. März.

Drieu, geboren 1893, und Münchhausen, Jahrgang 1874, verbindet auf den ersten Blick wenig mehr als ihre Zugehörigkeit zur schreibenden Zunft, ein depressives Gemüt und der nahezu selbe Sterbetag. Ansonsten scheinen größere Gegensätze kaum denkbar: hier der elegante Pariser Weltstadtbewohner aus großbürgerlichem Haus, das personifizierte Dandytum, dort der massige deutschnationale Junker aus uradeligem Geschlecht, von den verachteten Berliner „Asphaltliteraten“ in den 1920ern verspottet als provinzieller „Teutone in Thüringen“.

Gleichwohl stellen ihre Rezeptionsgeschichten markante Gemeinsamkeit dadurch her, daß die jeweilige Biographie weitaus mehr Interesse als das Werk erregt, das politische Engagement die literarische Leistung in den Hintergrund drängt. Wobei von Rezeption bei Münchhausen lange keine Rede sein konnte. Zwar finden sich einige seiner Balladen in den 1950ern noch in jedem bundesrepublikanischen Schullesebuch, doch in den gängigen Literaturgeschichten führte er bestenfalls eine Fußnoten-existenz als einer unter vielen aus dem „literarisch-ideologischen Aufgebot des schriftstellerischen Nationalsozialismus“ (Uwe-K. Ketelsen, 1992).

Münchhausens exemplarische Bedeutung, nicht als Poet, sondern als eifriger publizistischer Polemiker und agiler Netzwerker der kulturpolitisch-ästhetischen Opposition gegen das „System“ von Weimar, der seit 1929 den „Wartburgkrieg“ nationalkonservativer Schriftsteller gegen die von Liberalen wie Alfred Döblin und den Brüdern Thomas und Heinrich Mann dominierte Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste organisierte, hat nach dem Mauerfall erst der Brecht-Biograph Werner Mittenzwei  („Der Untergang einer Akademie“, 1992) ans Licht gebracht.

Auch die einstige Grünen-Ikone Jutta Ditfurth, geborene von Ditfurth, interessierte sich kaum für den Dichter, als sie ihrem Urgroßonkel Münchhausen ein Porträt widmete, das schon im knalligen Titel verriet, daß es um einen in ihrem Milieu üblichen volkspädagogischen Rundumschlag gegen deutsche Eliten im allgemeinen und den Adel im besonderen ging: „Der Baron, die Juden und die Nazis“ (Hamburg 2013). Treffend beurteilt der Leipziger Historiker Henning Gans das Machwerk als Erzeugnis der „Zwangshandlung fortwährender ‘Selbstgeißelung des Tätervolkes’“. Diese „Läuterungspeitsche“ schwingen seit Jahrzehnten „wohlstandsverhätschelte Kinder, Enkel und Urenkel von Nationalsozialisten und NS-Opportunisten“, nicht zuletzt in der Hoffnung auf pekuniären Gewinn und die Verleihung des Titels „bessere(r) Deutsche (r )“.

Trotzige Abwehrstellung gegen das Massenzeitalter

Gans selbst freilich, der nach entsagungsvoller Archivfron – bei souveräner Mißachtung der Forschung – kürzlich eine monumentale Münchhausen-Biographie vorlegte („‚Ich laß hier alles gehn und stehn‘“, Leipzig 2017), kündigt ebenfalls schon im enigmatischen Untertitel („Börries von Münchhausen, ein Psychopath unter drei Lobbyismokratien“) an, daß es dem Autor mehr um „Generalabrechnung“ als um geschichtlichen Erkenntnisgewinn zu tun ist.

Dieses mit grotesken Fehlurteilen (Gottfried Benn – „ein dichtender Berliner Hautarzt“) gespickte 650-Seiten-Pamphlet will nicht weniger bieten als das Psychogramm der spätestens 1871 beginnenden deutschen Daseinsverfehlung, analysiert an der nachträglich auf die Couch gezerrten idealtypischen Gestalt Münchhausens. Der sich an der intellektuellen „Erhebung wider die moderne Welt“ (Julius Evola) beteiligt, sich als Hochkonservativer öffentlich gegen die liberal-demokratische Auflösung von Tradition und Ordnung stemmt, in seinen Balladen die um Ehre und Treue kreisende alte Ritterzeit verklärt, persönlich aber als Dauergast in den Schwulencafés am Berliner Nollendorfplatz seine bisexuellen Leidenschaften so heimlich wie hemmungslos auslebte.

Abzüglich der schockierenden Verzerrungen und Entstellungen, die auf das Konto von Gans’ atemberaubender Unfähigkeit gehen, Vergangenheit als solche überhaupt wahrnehmen zu können, verleiht er Münchhausen dennoch genügend Profil als Vertreter einer gesellschaftlichen Oberschicht, die sich in ihrer trotzigen Abwehrstellung gegen das „Massenzeitalter“ ihrer eigenen Fragwürdigkeit und beängstigenden Leere ihrer Existenz bewußt geworden ist. Eine Entdeckung, auf die die Angehörigen der deutschen Führungseliten kein Patent hatten. In Sachen „Dekadenz“ dürften sie in der Pariser Großbourgeoisie sogar leicht ihren Meister gefunden haben, deren seit dem Ersten Weltkrieg in Verwesung übergegangene Fäulnis wiederum das Hauptthema der dreißig durchgehend autobiographisch getönten Romane und Erzählungen des Anti-Bürgers Drieu la Rochelle war.

In dem Erziehungsroman seiner Kriegsgeneration, „Gilles“ (1939, deutsch „Die Unzulänglichen“, Berlin 1966), entfaltet Drieu diese pandämonische Nachtseite der Hautevolee der Dritten Republik, und läßt den Helden einen Sumpf des Verbrechens, der Korruption, des Rauschgiftkonsums und der sexuellen Perversionen durchwaten. Dies ist das Biotop, das einen berühmten Altersgenossen Drieus, dialektisch betrachtet, positiv prägte: Georges Bataille (1897–1962), den Vater der multikulturellen Postmoderne und Lehrer des Diversity-Gurus Michel Foucault (1926–1984). Bataille reagierte auf diese Auflösung aller Dinge in den dreißiger Jahren mit der erst heute zur Maxime globalistischer Politik erhobenen Parole, den Prozeß der Zersetzung bis zur „Zerstörung der vorhandenen Welt“ voranzutreiben, bis von „gesellschaftlicher Homogenität“ und dem „bürgerlichen Regime der Vernunft“ nichts mehr übrig wäre.

Der ewige politische Romantiker Drieu antwortete ähnlich fundamentalistisch, suchte jedoch Stabilität im Chaos und hoffte seit dem Einmarsch der „nordischen Götter“ in Paris, im Juni 1940, die kulturell erschöpfte, destruktive bürgerlich-kapitalistische Moderne werde durch einen sozialrevolutionären faschistischen Ordnungsentwurf für das durch Adolf Hitler geeinte Europa ersetzt. Mit seinem Bilanzsuizid quittierte er diesen fatalen Irrtum – der übrigens der Präsenz seines Œuvres in Frankreich, wo es offiziell zum nationalen Kulturerbe zählt, kaum Abbruch tat. Im stramm „antifaschistischen“ Neuen Deutschland hingegen schon, das, abgesehen von seltenen Übersetzungen und Studien im Samisdat-Format, sich gegenüber Intellektuellen solchen gefährlichen Kalibers eher nicht weltoffen zeigt. 

Pierre Drieu la Rochelle: Geheimer Bericht. Matthes & Seitz, München 1986, gebunden, 360 Seiten, nur noch antiquarisch erhältlich