© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/20 / 13. März 2020

Für eine Rückkehr zur Vernunft
Der Journalist Henrik Müller will die Empörungsspirale und die ihr folgende Verunsicherung durchbrechen – ausgerechnet mit Hilfe der öffentlich-rechtlichen Medien
Konrad Adam

Empört euch!“ hieß der Titel eines Pamphlets, mit dem Stéphane Hessel, ein alter Widerstandskämpfer, vor ein paar Jahren die Jugend zum Aufstand gegen das Establishment ermuntern wollte. Nicht nur in Frankreich fand das schmale Büchlein starke Resonanz, das Thema paßte auf die ganze Welt, Grund zur Empörung gab es ja fast überall. Jetzt ist, mit einiger Verspätung, eine Antwort erschienen, die unverkennbar deutsche Züge trägt. Der Journalist und Kommunikationswissenschaftler Henrik Müller glaubt, daß die Empörungsbereitschaft jedes vernünftige Maß überschritten habe, und er wirbt für eine Rückkehr zur Vernunft. Das Mißtrauen, das die Politik blockiert und zu allerlei Kurzschlußreaktionen verführt, soll verschwinden. Mäßigung lautet die Botschaft, heißt auch das letzte Wort in diesem neuen Buch.

Wer der Empörung nachspürt, landet schnell bei den neuen, kurioserweise immer wieder „sozial“ genannten Medien, bei Facebook, Twitter und so weiter. Sozial wird man das, was sich in diesen Medien abspielt und das Gesprächsklima vergiftet, ja nur ausnahmsweise nennen können. Die Verlockung, seinen Gefühlen die Zügel schießen zu lassen und alles, was einem durch die Rübe rauscht, an eine möglichst große Glocke zu hängen, ist zu stark, um ihr zu widerstehen. Müller analysiert das sorgfältig und bringt Beispiele, die jeder Leser aus eigener Erfahrung ergänzen kann. Das gröbste Wort, die wildeste Spekulation, die steilste These ist gerade steil genug: sozialer Exhibitionismus, bei dem sich die Menschen nur selten von ihrer angenehmen Seite zeigen.

Mehr als Vermittler sind diese Medien aber nicht. Sie tragen die Botschaft, formulieren sie aber nicht. Wo man nach den Gründen für die Empörung sucht, die Menschen in aller Welt auf die Straßen treibt, greifen die Antworten des Kommunikationswissenschaftlers zu kurz. Woher das Vergnügen an den Anzüglichkeiten, das sich ja nicht nur im Internet, sondern auch auf Plakaten, Bannern, Spruchbändern und Transparenten austobt? Woher die Begeisterung, mit der das Wort Lügenpresse aufgegriffen und weitergetragen worden ist? Woher der Auflagenschwund der sogenannten Qualitätszeitungen und das Mißtrauen, das den einst als renommiert geltenden öffentlich-rechtlichen Medien entgegenschlägt?

Müller setzt auf die Stimme der Experten, der Fachleute, die gestützt auf ihr reicheres Wissen, ihre tiefere Einsicht oder ihre höhere Moral Fragen beantworten können, die den Normalbürger zwangsläufig überfordern. Um zu entscheiden, ob der Brexit jene kapitale Dummheit war, für die der Autor ihn hält, helfen die Fachleute aber nicht viel weiter; Fachleute gibt es für alles, und sie sind nie so unabhängig, wie sie sich selbst gern nennen. In der Politik, der demokratischen zumindest, gilt die Regel: Es könnte auch ganz anders sein, und wäre dann vielleicht sogar noch besser. Deswegen schützt die Demokratie die Minderheiten und garantiert das Recht auf Opposition.

Früher, in der Zeit vor PC, pflegten die Amerikaner Freiheit auch für solche Meinungen zu fordern, „die wir hassen“. Das ist vorbei. Der öffentliche Dialog verharzt, wird langweilig und verläuft sich in Sackgassen. Vertreten und verkündet werden darf nur noch das, was  irgendwelche Spezialisten autorisiert, für gut und wahr befunden haben und nun für alle gelten soll. Was dabei herauskommt, ist das politisch korrekt eingenordete Denken und Sprechen im öffentlichen Raum: Wahrscheinlich eine der Hauptursachen für die Empörung, der Müller beizukommen sucht. „Heute“ und „Tagesschau“ senden auf derselben politischen Wellenlänge; was unabhängig davon, ob man die Wellenlänge mag oder nicht, kein guter Zustand ist. Ein Meinungsproduzent, der Gebühren auch von denen eintreibt, die sein Angebot weder hören noch sehen wollen, ist ein schlechtes Vorbild für den herrschaftsfreien Dialog. Warum ein Autor, der den Zweifel lobt und die Skepsis predigt, sich für ARD und ZDF ins Zeug legt, das deutsche Modell sogar als Muster für ein europaweites Mediensystem empfiehlt, versteht man nicht. Oder vielleicht doch?






Dr. Konrad Adam war langjähriger Feuilleton-Redakteur bei der „FAZ“ und Chefkorrespondent der „Welt“. Er gehörte 2013 zu den Mitgründern der AfD.

Henrik Müller: Kurzschlußpolitik.Wie permanente Empörung unsere Demokratie zerstört. Piper Verlag, München 2020, gebunden, 256 Seiten, 22 Euro