© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Ländersache: Niedersachsen
Abstimmen über die „Kammer des Schreckens“
Paul Leonhard

Die Angehörigen von Heilberufen in der Pflege in Niedersachsen sollen per Online-Abstimmung selbst entscheiden, ob es weiterhin eine „grundsätzlich beitragsfreie Landespflegekammer“ geben wird oder nicht. So hat es Sozialministerin Carola Reimann (SPD) Ende Februar festgelegt. „Das Votum der Pflegenden ist dann für uns bindend.“ Gemeint sind Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Kinderkranken- und Altenpfleger.

So hofft die rot-schwarze Regierung, wenn nicht einen Neuanfang, dann wenigstens einen Schlußstrich zu ziehen, was das Kapitel Pflegekammer betrifft. Diese war auf Initiative der rot-grünen Vorläuferregierung und gegen den Widerstand der CDU und FDP ab 1. Januar 2017 per Gesetz als Körperschaft des öffentlichen Rechts gegründet worden, um die rund 90.000 Pflegefachkräfte zu vertreten. Vorbilder waren Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein.

Auch dort hatte es Unmutsbekundungen gegen die Kammern gegeben, die aber nie derartige Ausmaße annahmen wie in Niedersachsen. Rund 51.000 Unterschriften einer Online-Petition, mit der die Abschaffung der Kammer gefordert wurde, hatten die Initiatoren Sozialministerin Reimann übergeben. Auslöser waren neben der Zwangsmitgliedschaft und der Verschärfung des auf Pflegekräfte ausgeübten Druckes durch das neue Gesetz vor allem die undurchsichtige Berechnungsgrundlage der Beiträge. Als der Landtag im Dezember entschied, die Pflegekammer dauerhaft beitragsfrei zu stellen und dafür das Sozialministerium die Kosten der Kammer aufbringen zu lassen, lehnte der Vorstand der Landespflegekammer den Verzicht auf Mitgliederbeiträge ab und erklärte sich lediglich bereit, für 2018 bis 2020 einen staatlichen Zuschuß zu akzeptieren. Dies brachte das Faß zum Überlaufen. Kammerpräsidentin Sandra Mehmeck wurde per Mißtrauensantrag abgewählt. Eine Verfechterin der Zwangsmitgliedschaft, in der sie ein Kernkriterium für den Erfolg sieht, ist allerdings auch Nachfolgerin Nadya Klarmann: „Freiwillige Vereinigungen mit niedrigem Organisationsgrad gibt es schon zahlreich“, sagte die 50jährige Altenpflegerin der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Für diese Ansicht findet sie nicht mal bei Verdi Unterstützung, die eine auf freiwilliger Mitgliedschaft basierende „Vereinigung der Pflegenden“ favorisiert. Und der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste bemängelte bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes, daß die Kammer weder für verbandspolitische Aufgaben noch für Tarifverhandlungen oder Lobbyarbeit zuständig, mithin also überflüssig sei.

Auf einen weiteren Geburtsfehler verweist die AfD: Mit den sechs Millionen Euro des Landes sei keine seriöse Finanzierung möglich. „Allein 2019 lagen deren Ausgaben bei neun Millionen Euro“, rechnete der Abgeordnete Stephan Bothe vor. Die fehlende Anschubfinanzierung sei ein Fehler gewesen, so Meta Janssen-Kucz, Sprecherin für Gesundheit und Pflege in der Grünen-Fraktion.

Eine Einsicht, die zu spät kommt. Zumindest wenn eine Mehrheit der Befragten der Meinung ist, daß die „Kammer des Schreckens“ (FDP-Fraktionschef Stefan Birkner) einfach überflüssig ist. Die Ergebnisse der Online-Abstimmung sollen bis Ende April vorliegen.