© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Ein neuer Bürgersinn soll das Land retten
Libanon: Neustart nach der Whatsapp-Revolte
Luca Steinmann

Linda Boulos Macari ist eine junge Dame mit schwarzem Haar, um den Hals trägt sie ein großes Kreuz. Ohne Umschweife schüttet sie ihr Herz aus: „Ich bin in Furcht aufgewachsen. Als ich klein war, sagten mir meine Eltern, daß ich Angst vor den anderen religiösen Gruppen haben sollte, weil sie uns als Christen verfolgten. Durch diese Revolution habe ich zum ersten Mal erfahren, daß es viele Muslime gibt, die mich als Christ verteidigen wollen, weil wir alle Landsleute sind.“

 Linda ist eine der Seelen der libanesischen Revolution, während der sie auch verhaftet wurde. Alles begann am 17. Oktober 2019, als die Regierung eine neue Steuer auf Whatsapp ankündigte. 

Religiöser Klientelismus führte das Land in die Krise

Dies brachte Hunderttausende Menschen auf die Straße, die bis heute noch regelmäßig demonstrieren, um den Rücktritt der ganzen politischen Klasse sowie auch die Abschaffung des politischen konfessionellen Systems des Landes zu erzwingen. Ende Oktober 2019 erreichten sie dann den Rücktritt der Regierung.

Der Libanon besteht aus 18 verschiedenen Glaubensgemeinschaften, welche einer oder mehreren Parteien entsprechen. Diese haben sich im Bürgerkrieg 1975 bis 1990 15 Jahre lang brutal bekämpft. Am Kriegsende gründeten sie ein neues politisches System, um Gewalt zu vermeiden. Seitdem werden die öffentlichen Ämter gleichmäßig verteilt, so daß jede Gruppe über eine ähnlich große politische Vertretung verfügte. 

Es handelte sich zu Beginn um eindurchaus effektives demokratisches System, zu dem die Bürger jedoch nur durch die Parteien ihrer Glaubengemeinschaft Zugang haben. Dies führte jedoch mit der Zeit zu Korruption und Klientelismus. Politik und Wirtschaft standen unter dem Einfluß weniger Politiker und Oligarchen. Das Ergebnis ist eine riesige Staatsverschuldung (150 Prozent im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt) sowie auch steigende Steuern und Arbeitslosigkeit (25 Prozent) vor allem unter der Jugend (37 Prozent).

Erst die Steuer auf Whatsapp war der Grund, zum ersten Mal zu demonstrierten. Heute befinden sich in der Stadtmitte von Beirut ungefähr 150 Zelte, jedes ist die Zentrale einer der vielen verschiedenen Protestgruppen, die in den vergangenen Monaten entstanden sind. In einem von diesem treffen sich zirka 15 Revolutionäre zu einer Sitzung. 

Es handelt sich um junge sowie ältere Menschen jeden Glaubens, Männer sowie Frauen, keiner hat früher Politik gemacht – außer einer: Fouad Abou Nader, der im Bürgerkrieg der Chef der christlichen Miliz der Libanesischen Kräfte war. 

Er ist der einzige anerkannte Politiker, der die Revolution akzeptiert hat. „Seit dem Ende des Krieges engagiere ich mich für den Dialog. Es ist wichtig, daß meine Kinder meine negativen Erfahrungen nicht selbst noch einmal erleben müssen“, betont er in der Mitte des Zeltes. „Ich treffe mich mit meinen alten Feinden, um mit ihnen über die damalige Wut zu sprechen. Aber erst seit der Revolution habe ich den richtigen Weg für die Versöhnung gefunden. Erst seit dem 17. Oktober sehe ich das libanesische Volk vereint gegen diese kurrupte Nomenklatur. Erst heute habe ich den Eindruck, daß der Bürgerkrieg endlich zu Ende geht.“

Im Zelt debattiert man über die Zukunft der Revolution. Die Regierung ist gestürzt, doch der Kampf soll bis zur Abschaffung des ganzen Systems weitergehen. Abou Nader spricht weiter: „Hier geht es nicht rein um Politik, sondern um die Entwicklung einer neuen Art libanesischen Bürgersinns, der sich zuerst mit der Nation und erst danach mit der Religion identifiziert.“ 

Wie reagieren Teheran und Riad auf die Modernisierer 

Diese Perspektive wird vor allem von vielen jungen Menschen geteilt. Eine davon ist die 33jährige Nour. Die Gründerin einer Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich aktiv an der Revolution beteiligte, erklärt: „Ich bin kurz vor dem Ende des Bürgerkriegs geboren und seit meiner Kindheit lernte ich akribisch Englisch und Französisch. Denn meine Eltern dachten, daß ich unbedingt ins Ausland auswandern sollte, um dort friedlich zu leben und Karriere zu machen.“

Aber genau gegen diese Vorstellungen habe sie sich in der Revolution engagiert, betont Nour. „Ich kämpfe für das Recht meiner Generation, eine Zukunft im eigenen Land zu haben.“ Ihre NGO namens Lebanon Needs unterstützt Projekte vor Ort mit dem Ziel, eine nachhaltige lokale Witrschaftsstruktur  zu entwickeln, die unabhängig von Importen und Finanzierungen aus dem Ausland agitieren kann.

Während der Gespräche im Zelt fällt häufig ein Wort: Souveränität. Das libanesische Volk soll für sein Recht auf Selbstbestimmung kämpfen – gegen die korrupte politische Elite sowie gegen den Einfluß ausländischer Mächte im Land. Gemeint sind hier vor allem der Iran und Saudi-Arabien, die seit Jahren in dem politisch und religiös heterogenen Libanon einen Stellvertreterkrieg führen.

Saudi-Arabien geriert sich als Beschützer der sunnitischen Libanesen, versammelt um den zurückgetretenen sunnitischen Präsidenten Saad Hariri, Iran stützt vor allem die schiitische Hisbollah, die in den vergangenen Jahren stärkste Partei des Landes wurde. Beide Kontrahenten haben in den vergangenen 30 Jahren im Libanon sehr viel Geld investiert und dabei parallel existierende Sozialstaaten für ihre Klientel etabliert, was im Endeffekt die Arbeit der libanesischen Behörden ad absurdum führte.

Diese Situation habe regelmäßig Spannungen im Land befördert sowie zunehmend „externe Konflikte aus dem Ausland importiert“, beschweren sich die Revolutionäre. 

Im Endeffekt wird dadurch vor allem die Hisbollah geschwächt, deren paralleler Sozialstaat am verbreitetsten ist. Doch auch Hisbollah-Anhänger äußern sich oft positiv zur Revolution. Andere jedoch prangern die politische Intrumentalisierung der Proteste durch den Westen an. Als Beweis dafür geben sie die Namen einiger vom Westen kontrollierten NGOs und Medien an, die die Revolution aktiv unterstützt haben sollen. Selbst die US-Botschaft in Beirut, so das Fazit der Hisbollah-Unterstützer, unterstütze die Protestgruppen in den Zelten.