© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Keine Schwächen zeigen
Rußland: Putin will weiter der starke Mann sein – wenn das Volk zustimmt
Paul Leonhard

Eine Volksabstimmung in Deutschland über eine wichtige Änderung des Grundgesetzes? Dazu ist das Mißtrauen der Regierenden gegenüber dem angeblichen Souverän viel zu groß. In Rußland dagegen, wo Präsident Wladimir Putin offen einschätzt, daß der „liberale Gedanke“, der den westlichen Gesellschaften jahrzehntelang zugrunde lag, „seinen Zweck überlebt“ hat und „obsolet“ geworden ist, soll das Volk am 22. April per Referendum entscheiden, ob es den vom Parlament bereits abgesegneten Verfassungsänderungen zustimmt. Es handelt sich um die größten Veränderungen der Verfassung seit Jahren.

Diese betreffen nicht nur Soziales (soziale Garantien wie Mindestlohn, Verbot der Homoehe), Religion (Gottesbegriff), Geschichtsschreibung („Schutz der historischen Wahrheit“), sondern vor allem die Macht des Präsidenten, der künftig maximal zwei Amtszeiten à sechs Jahre das Land lenken darf, und dessen Machtbefugnisse wachsen – er erhält mehr Möglichkeiten, sein Veto gegen Parlamentsentscheidungen einzulegen, darf die Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gericht bestellen, diese sowie Ministerpräsident und Minister entlassen und ist selbst immun.

Damit steht im Mittelpunkt der Wahrnehmung jener Mann, der die Geschicke des riesigen Landes seit mehr als 20 Jahren lenkt. Der 67jährige Putin regiert in seiner vierten Amtsperiode als Staats- beziehungsweise Parlamentschef und darf nach der bisherigen Verfassung in vier Jahren nicht wieder gewählt werden. 

Rußland laboriert an seiner  nationalen Selbstfindung

Doch es gibt einen entscheidenden Kniff. Öffentlich vorgeschlagen hat ihn die Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Rußland, Walentina Tereschkowa, weltweit bekannt als die erste Frau im Weltall: Die in der Verfassung neu geregelten Befugnisse des Präsidenten würden letztlich bedeuten, daß dieses Amt nicht mehr mit dem vorherigen vergleichbar ist, also sollten die bisherigen Amtszeiten Putins auf Null gesetzt werden, auch weil dieser „ein stabilisierender Faktor für unsere Gesellschaft sein“ könne.

Die Möglichkeit einer Annullierung von Amtszeiten des Präsidenten hatte das russische Verfassungsgericht zwar bereits einmal verneint, aber das war 1998 und betraf Boris Jelzin. Jetzt will Putin erneut ein Votum der Verfassungsrichter.

Tatsächlich ist Putin für die Mehrheit der in Rußland lebenden Menschen ein Stabilitätsanker. Eine Ursache für die hohe Popularität seiner Person und seiner neo-imperialen Politik sind die Erfahrungen des ökonomischen, politischen und sozialen Niedergangs in den neunziger Jahren sowie die Entwicklungen in der Ukraine. 

Das Land laboriert noch immer an seiner nationalen Selbstfindung und an einem – analog zu den chinesischen Kommunisten – eigenen Weg in die Zukunft. Der einst anvisierte gemeinsame Weg mit dem Westen ist durch die Ausgrenzung Rußlands, die Absage an eine Einbindung in eine gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur und Wirtschaftssanktionen, ad acta gelegt.

Putin will mehr Harmonie und weniger Schocks

Vor dem Parlament betonte Putin jetzt, daß er es nicht für zweckmäßig halte, die Begrenzung der Anzahl der Amtszeiten des Präsidenten aufzuheben, auch weil nur mit einem Machtwechsel die „Dynamik der Entwicklung des Landes zu gewährleisten“ sei, andererseits müsse man in Krisenzeiten flexibel sein. Vorgezogene Parlamentswahlen lehnte er ab: „Ich bin mir sicher, wir können zusammen viel Gutes schaffen, zumindest bis 2024. Dann sehen wir weiter.“ 2024 endet die aktuelle Amtszeit Wladimir Putins.

Stimmt das „multinationale Volk der Rußländischen Föderation“, wie es in der Verfassung von 1993 heißt, dem Verfassungsentwurf zu und wählt es 2024 erneut Putin, könnte dieser maximal bis 2036 der wichtigste Mann Rußlands bleiben. Immerhin 383 von 450 Abgeordneten der Duma finden diese Lösung für Rußland in Ordnung. Lediglich die 43 kommunistischen Parlamentarier enthielten sich. Gegenstimmen gab es keine. Auch das russische Verfassungsgericht stimmte inzwischen der neuen Verfassung zu.

Die innenpolitische Stabilität, so mahnte Putin, sei einer der Schwachpunkte Rußlands. Das Land benötige interethnische und interreligiöse Harmonie und keine neuen Schocks: Rußland habe seinen „Plan für Revolutionen“ bereits erfüllt.