© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

„Wie ’89, die Nerven liegen blank“
Abkehr von den etablierten Parteien: Warum der Osten noch immer anders tickt
Uwe Steimle

Wie sagte schon Kurt Tucholsky: „Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten.“ Nie hätte ich geglaubt, daß dieser Satz in einer „Demokratie“ zur Wirklichkeit wird. In Thüringen erlebten wir den Beweis für die Richtigkeit dieser These in der Praxis. Das Gros der Medien sowie eine Einheitspartei, bestehend aus Linke, FDP, CDU, Grünen und SPD, also die antinationale Front, wußten schon frühzeitig, auf wessen Seite sie sich zu schlagen haben. Kanzlerin Merkel hatte aus Südafrika verkündet, die Wahl des Ministerpräsidenten müsse rückgängig gemacht werden, und alle folgten. Und das hat Folgen.

Eine wirklich demokratische Wahl, nämlich die in Thüringen, wird per Handstreich vom Tisch gefegt, und das nennt sich Demokratie? „Wo leben wir denn?“ fragt sich der gelernte DDR-Bürger händeringend und augenreibend dreißig Jahre nach der Wende? Haben wir 1989 hinter der Gardine gestanden, um jetzt miterleben zu dürfen, daß wir in Wirklichkeit gar keine Zukunft haben, jetzt wo die Zukunft Wirklichkeit wird? Eine inszenierte Mediendemokratie, gespeist aus Opportunismus, erleben wir vor aller Tagesschauaugen. Vielleicht war die DDR ein Unrechtsstaat, in dem es aber auch Gerechtigkeit gab, und wir hier leben in einem Rechtsstaat mit viel Ungerechtigkeit.

Im Osten wurde eine große Ernsthaftigkeit gelebt 

Wir Menschen aus der ehemaligen DDR sind nicht nachtragend, aber wir vergessen auch nichts. „Der denkbar höchste Grad der Lüge ist erreicht, wenn das Urteilsvermögen zwischen Wahrheit und Falschheit aufhört und der Lügende seine eigene Lüge glaubt und sich darüber entrüstet, daß andere in seine Worte Zweifel setzen“, sagte der Jurist Franz von Holtzendorff, und ich möchte hinzufügen angesichts dessen, welch schmieriges Staatstheater auf offener Bühne und vor aller Augen aufgeführt wird: „Haltet den Dieb, er hat mein Messer im Rücken!“

Schön mit anzusehen, wie sich die Bilder gleichen, wie ’89 liegen die Nerven blank. Neulich fragte mich eine Journalistin, als ich in Westdeutschland ein Gastspiel gab: „Woher nehmen Sie Ihre Gewißheit, Ihr selbstbewußtes Auftreten, Herr Steimle? Sie wirken nahezu gelöst auf der Bühne, woher kommt das?“ „Sehen Sie“, gab ich zur Antwort, „wir Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik haben ’89 gesehen und am eigenen Leib miterlebt, wie es ist, wenn ein Staat verschwindet, ja zusammenbricht, und dies steht Ihnen noch bevor. Meistens wird dann irgendwie irre gelächelt, doch ich denk dann immer ‘Wer zuletzt lacht, lacht im Osten!’“

Warum tickt der Osten anders? Weil Not erfinderisch macht, weil im Osten eine große Ernsthaftigkeit gelebt wurde, die wirklich wichtigen Dinge des Lebens über lange, lange Zeit präsent und fest verankert waren im Volk. Und damit meine ich Gemeinschaftssinn, Solidarität und daß ohne Frieden alles nichts ist. Wir mußten nach dem Krieg aus nichts etwas schaffen. 90 Prozent der Reparationskosten des Zweiten Weltkrieges hat die DDR bezahlt, ja, 18 Millionen Menschen wurden in Sippenhaftung genommen für einen Krieg, den das gesamte deutsche Volk verloren hat. Das ist kein Jammern, sondern eine unumstößliche Tatsache. Und lieber einen verordneten Antifaschismus als gar keinen!

Die Einheit ist gescheitert, es müssen Schuldige her

Wissen Sie, was mich auch verwundert, mich die Augen reiben läßt? Eine Million Sozialwohnungen wurden in der DDR gebaut, von 1974 bis 1989. Eine Million! Und wie sagte Erich Honecker in einem Interview: „Aber die Leute haben sich ja scheiden lassen.“ Herrlich, heute sind diese Sozialwohnungen zum Großteil in US-amerikanischer Hand. So verkaufte die Stadt Dresden ihren kompletten Wohnungsbestand an eine amerikanische Fondsgesellschaft! Wieso dürfen Amerikaner Renditen erzielen durch Wuchermieten für deutsche Wohnungen? Das empfinde ich als zutiefst ungerecht! 

Wer läßt dies zu? Olaf Scholz, die katholische Kirche und Herr Merz. Daß die AfD so stark geworden ist, hat gerade damit zu tun. Soziale Ursachen lassen die Menschen sich von den etablierten Parteien abwenden. Was als „Kampf gegen Rechts“ geführt wird, ist in Wahrheit ein Kampf gegen das eigene Volk.

Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst. Und genau diesen zweiten Halbsatz kehren wir momentan zugunsten eines enthemmten Globalisierungsirrsinns unter den Tisch (Globalisierung hieß bis 1989 Imperialismus). Wer sich aber nicht selbst lieb hat, wie soll der andere lieben? Gedankenfreiheit ist die Hauptschlagader einer Demokratie; wird diese beschädigt, droht der Infarkt. Die Einheit ist gescheitert und nun müssen Schuldige her. Und wer muß schuld sein? Genau die, denen man Eigentum genommen hat, die materiell nicht abgesichert einer ungewissen Zeit entgegenfiebern. 

Die Wiedervereinigung ist vollendet, wenn der letzte Ostdeutsche aus dem Grundbuch gelöscht ist. Neulich fragte ein MDR-Reporter einen westdeutschen Handelsökonomen: „Wie kann es sein, daß dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution so wenige im Osten über Immobilien, geschweige denn Aktien verfügen?“ Antwort des „BRD-Experten“: „Da haben wir ganz einfach zu wenig Aufklärung geleistet, denn ein breitgefächertes Aktienpaket und ’ne schöne Immobilie gehören heute wie selbstverständlich in jedes Portfolio.“ 

Es sind genau solche Sätze, die jegliches Mitgefühl vermissen lassen. Abgehoben, weltfremd und arrogant durch Macht. Wie sagte schon Jurij Brezan, der große sorbische Nationaldichter: „Da die Macht keine Vernunft kennt, hat die Vernunft keine Macht.“ 






Uwe Steimle ist Kabarettist und Schauspieler. Er lebt in Dresden.

 www.uwesteimle.de/