© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Toter Hund und Gotteskünder auf Erden
Friedrich Hölderlin: Zur Wirkungsgeschichte des Dichters anläßlich seines 250. Geburtstages
Dirk Glaser

Das Leben Friedrich Hölderlins, vor 250 Jahren, am 20. März 1770, geboren in Lauffen am Neckar im Herzogtum Württemberg, gestorben am 7. Juni 1843 in Tübingen, erstreckt sich über  zwei ziemlich gleich lange Perioden, die sich unterscheiden wie Tag und Nacht. Bis 1806 steht es unter dem Zeichen des erfolglosen Bemühens eines zum Pfarramt bestimmten Hauslehrers, sich als freier Schriftsteller zu etablieren. Die zweite Hälfte verbringt der 1807 als unheilbar aus der Psychiatrie entlassene Kranke als eine Art poetischer Kaspar Hauser in der Obhut seiner Pfleger, der Familie des Tübinger Schreinermeisters Ernst Zimmer.

Publiziert hat der Autor Hölderlin wenig. Den zweibändigen Roman „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ (1797/1799), mit jeweils 350 Exemplaren fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit erschienen, einige in Taschenbüchern und Almanachen versteckte Gedichte, eine von Druckfehlern verunstaltete Übersetzung der „Trauerspiele des Sophokles“. Kurz nach seinem Einzug in Zimmers Tübinger Turm brachte der „Musenalmanach auf das Jahr 1807“ nachmals Berühmtes, damals kaum Beachtetes, wie die elegischen Gesänge „Patmos“, „Der Rhein“, „Andenken“ und die erste Strophe von „Brod und Wein“.

Vergleich mit Goethe nicht gescheut

Für den Dichter Hölderlin galt jahrzehntelang, was Karl Marx über dessen gleichaltrigen Jugendfreund, den 1831 von der Cholera hinweggerafften preußischen Staatsphilosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel schon in den 1840ern feststellte: er war ein „toter Hund“. Bemühungen von Enthusiasten wie Gustav Schwab, dem Werk des „unerreichbar Entrückten“ (Varnhagen von Ense) Resonanz zu verschaffen, blieben ohne nennenswerten Widerhall. Immerhin sicherten ihm die erste Ausgabe der Gedichte (1826) und die von Schwab veranstaltete, mit kühner Übertreibung so betitelte Edition von „Friedrich Hölderlin’s sämmtliche(n) Werke“ (1846) ein bescheidenes Fortleben als schwäbische Lokalgröße.

Auffällig angesichts der vorherrschenden Ignoranz der Kritik und des biedermeierlichen Lesepublikums sind allerdings die wenigen, aber gewichtigen Stimmen aus der Ära des Vormärz, die den Dichter auf ein hohes Podest heben. Vom „tiefsinnigsten Lyriker seit Goethe“ ist 1843 in einigen Nachrufen die Rede. Auch der erste Versuch einer monographischen Deutung, den der Königsberger Schriftsteller Alexander Jung 1848 im Fahrwasser von Schwabs „Gesamtausgabe“ vorlegt, scheut den Vergleich mit Goethe nicht. 

Bedeutsamer noch als die bei Jung im Vordergrund stehende Apotheose des Sprachkünstlers ist die Vereinnahmung der politischen Potentiale seiner Texte durch vorrevolutionäre Wortführer des „Jungen Deutschland“. Sie stilisieren ihren Verfasser zum Märtyrer und Kronzeugen der fortwährenden politisch-sozialen Rückständigkeit der absolutistisch erstarrten deutschen Verhältnisse. Georg Herwegh ist der zeitkritisch aktualisierte und ausgebeutete „Hyperion“ eine „kräftigende Erbauung in schwerer Gegenwart“. Theodor Mundt, der bereits 1836 von „einem der größten deutschen Dichter“ schwärmt, preist Hölderlin, kosmopolitisch timbriert, am Vorabend der Märzrevolution als „Seher einer glücklichen Einheit des Menschengeschlechts“. Andere begrüßen ihn als „ersten Bürger im Geiste eines Reiches, das erst begründet werden soll“. Der Linkshegelianer Theodor Opitz entdeckt die „diesseitigen und lebensbejahenden“, notwendig anti-christlichen Seiten des auf die heidnische Antike fixierten „Gräcomanen“ und jubelt, er sei „der erste recht eigentlich politische Dichter, Dichter im Reich der Freiheit, Dichter des ganzen vollen Menschen“.

Kein Wunder, daß auch der junge Karl Marx in „Hölderlin-Stimmung“ schwelgte; eine nur scheinbar überraschende Facette in der Biographie des Weltrevolutionärs, an die der Althistoriker („Demokratie und Klassenkampf im Altertum“, 1921) und KPD-Politiker Arthur Rosenberg noch 1932 erinnerte. Denn tatsächlich entwuchs der humanistisch erzogene Marx der gleichen Bildungswelt wie Hölderlin, Goethe, Schiller, Humboldt. Die „Harmonielehre des Deutschen Idealismus“ (Ernst Nolte) lieferte Hölderlin wie Marx das Material für ihre Zeitdiagnose und Kulturkritik, für ihre sozialpolitischen Gegenentwürfe und Utopien. Hyperions „Scheltrede“ an die Deutschen richtet sich an die „allberechnenden Barbaren“, die, obwohl um 1800 von der arbeitsteiligen Industrialisierung noch kaum berührt, wie „Fremdlinge im eigenen Hauße“ leben und eine atomisierte, „zerstückelte“ Existenz führen. Marx nennt diese Schrumpfform des Menschen ein Dasein in der Entfremdung. Mit dem in der klassenlosen Gesellschaft Schluß sein soll. Weil dann jedermann seine Talente in allen Richtungen ausbilden, seine Anlagen allseitig entwickeln und betätigen werde. Für den an der überschaubaren griechischen Polis orientierten Hölderlin gediehe dieser „menschlichste Mensch“ nicht im globalisierten kommunistischen Kollektiv oder in der grenzenlos libertären Weltrepublik französisch-angelsächsischen Musters, sondern besser im ethnisch und kulturell homogenen „Volksstaat“.

Hölderlin-Renaissance dank Friedrich Nietzsche

Nach den geplatzten Illusionen von 1848 gab es für eine Dichtung, der derart umstürzlerische Konsequenzen innewohnten, nicht einmal mehr vereinzelten Beifall wie noch bei Herwegh oder Opitz. Entsprechend sank Hölderlins ohnehin niedrig notierter literarischer Börsenwert zwischen 1850 und 1900 weiter ab. Erst recht seit der Reichsgründung von 1871 triumphierte die „Tatsachenwelt“, der Wirtschaftsgeist einer aufstrebenden, imperialistisch ausgreifenden Großmacht, die nicht auf die Gegenglückserwartungen eines „versponnenen Griechensehnsüchtlings“ wartete. Der repräsentative Nationalliberale unter den Sängern des „Neuen Reiches“, der Ideenhistoriker Rudolf Haym, stufte Hölderlins „Fieber der Gräcomanie“ 1870 also kurzerhand als Krankheit ein. Ein Poet, dem man „epidemische Hypochondrie“ attestierte, brauchte weder literarisch noch politisch ernst genommen zu werden. Seine idealistische Botschaft von der Vollendung des Lebens durch Kunst, Religion und Metaphysik war dann nichts als ein Hirngespinst. Folglich löste die Einweihung eines Hölderlin-Denkmals 1881 in Tübingen nur ein lokales Echo aus. 

Aber allmählich, in dem Maß wie die materialistische Unkultur des wilhelminischen Reiches in eine desintegrierende Akzeptanzkrise geriet, wendete sich das Blatt zugunsten Hölderlins. Friedrich Nietzsches von „Hyperion“ inspirierte, vernichtende Kritik am „Bildungsphilister“ bereitete den Boden für die um 1900 mächtig einsetzende, von der Lebensreform-Bewegung angeheizte Hölderlin-Renaissance. Wilhelm Dilthey warf 1905 die Autorität eines Berliner Mandarins für den Stifter der „Ätherreligion“ in die Waagschale. Arthur Moeller van den Bruck trommelte für den „Gotteskünder auf Erden“, dessen Werk die Sehnsucht nach einem höheren, schöneren Leben wecke, das Rettung vor der „häßlichen Welt“ der kapitalistischen Massengesellschaft verheiße.

Stefan George und sein Kreis, in erster Linie der 1916 vor Verdun gefallene Philologe Norbert von Hellingrath mit seiner historisch-kritischen Werkausgabe, die die lange als Zeugnis des „Wahns“ gehandelten späten, enigmatischen Gedichte enthielt, etablierten Hölderlin als Seelenführer und „germanischen Vorkämpfer einer höheren Menschheit“. Im „Deutschen Lesebuch für Oberklassen“ kam dieser vom Ersten Weltkrieg beschleunigte Wertungswandel allerdings nur zögerlich an. 1910 dominierten noch Goethe und Schiller mit 122 Gedichten gegenüber den kümmerlichen neun Hölderlins. 

Daß sich die Deutung Stefan Georges, dessen jüngere Adepten, wie Claus Graf Schenk von Stauffenberg, in den 1920ern mit Hölderlin und nicht mehr mit dem „Vorbild Goethe“ sozialisiert wurden, nicht breiter durchsetzte, war den elitären Reserven des Kreises geschuldet, die man nach 1933 als „esoterischen Bildungsaristokratismus“ schmähte, der Hölderlins Dichtung vom „Urgrund des Volkes“ isoliert habe. Ein nicht unberechtigter Vorwurf, stellt man die zentrale Funktion in Rechnung, die Hölderlin der völkischen Gemeinschaft im Bildungsprozeß zuweist. Mit der „Verzerrung“ zum „völkischen Dichter“, dessen künftiges Vaterland eines „der Demokratie“ gewesen sei, wie Rüdiger Safranski in seiner Hölderlin-Biographie lamentiert (JF 5/20), hat das jedenfalls nichts zu tun.

Ein Streit über die NS-Rezeption Hölderlins ist heute jedoch müßig, weil dieser „Dichter als Führer“  nach 1945 so ausgedient hat wie die Hochschätzung von Volk und Nation. Er befriedigt nicht länger kollektiven politischen Sinnhunger. Darum möchte Dietrich E. Sattlers zwischen 1975 und 2008 im Verlag Roter Stern erschienene, „offene“ 20bändige „Frankfurter Ausgabe“ den vereinzelten, sich autonom „selbst verwirklichenden“ Leser zu exklusiver Lektüre und Deutung animieren. Das ist die editionstechnisch konsequente Anwendung des „anti-autoritären“ Prinzips des „offenen Unterrichts“ auf eine neoliberal aufgelöste Lesekultur, die keine Leitkultur mehr sein darf.