© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

CD-Kritik: Leoš Janá?ek
Heimvorteil
Jens Knorr

Eine Brünner Tageszeitung veröffentlicht Gedichte eines anonymen Bauernburschen. Der habe sich in eine Zigeunerin verliebt, mit ihr einen Sohn gezeugt und mit der neuen Kleinfamilie Eltern und Heimatdorf verlassen. Ein verheirateter tschechischer Komponist trägt die Zeitungsausschnitte schon des längeren mit sich herum, als er sich in die 38 Jahre jüngere Frau eines Antiquitätenhändlers verliebt. Erste, von der ebenso unerfüllten wie inspirierenden Liebe Leoš Janá?eks zu Kamilla Stösslová angeregte Komposition ist der Liederzyklus „Aus dem Tagebuch eines Verschollenen“ (1917–1919) auf die Gedichte von Josef Kalda, der erst 1997 als Verfasser der Gedichte identifiziert werden konnte.

Der lyrische Tenor Pavol Breslik, derzeit von den großen Opernhäusern stark nachgefragt, kann sich auf den Heimvorteil des Muttersprachlers verlassen, für den die Sprache und ihre spezifische Verarbeitung in diesem Werk exterritorialer Heimatmusik des 20. Jahrhunderts keine Hürden darstellen. 

Breslik bewältigt die schwierige Tessitura der Lieder mit in der Höhe angestrengter Bruststimme. Sein immerwährendes, schmachtend vibratöses Dauer-Espressivo täuscht Dringlichkeit nur an. Lieber jammert er sich an den Ausdruckswerten von Motiven vorbei, als daß er sie bohrend auslotete. Aber: ein Jammern auf hohem Niveau.

Leoš Janá?ek Tagebuch eines Verschollenen Orfeo 2020  www.orfeo-international.com