© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Danach war alles anders
Coronavirus: Eine Erinnerung an die Novellen-Sammlung des italienischen Dichters Giovanni Boccaccio
Markus Brandstetter

Der Beginn der Seuche ließ sich später ganz genau beschreiben. Es war Anfang Frühling, als die Krankheit begann, ihre verheerende Wirkung zu zeigen. Merkwürdigerweise war das erste Anzeichen der Seuche nicht Nasenbluten wie im Orient, sondern das Auftreten von Geschwülsten, welche groß wie ein Ei oder ein Apfel waren und sich bei Mann und Frau gleichermaßen zuerst an den Leisten oder in den Achselhöhlen zeigten. Das war aber erst der Anfang. Später nahm die Krankheit eine andere Gestalt an. Viele Menschen bekamen nun auf den Armen, den Lenden und allen anderen Teilen des Körpers schwarze und bräunliche Flecke, die bei einigen groß, aber gering an Zahl, bei anderen dafür klein und dicht waren.

Schnell wurde erkannt, daß zur Heilung dieser Krankheit kein ärztlicher Rat und keine Arznei taugte, entweder weil diese Art der Seuche es nicht zuließ, oder weil die Unwissenheit der Ärzte den rechten Grund der Krankheit nicht zu erkennen vermochte und ihr daher kein wirksames Heilmittel entgegensetzen konnte. Deshalb starben fast alle innerhalb von drei Tagen nach dem Auftreten der so beschriebenen Anzeichen, der eine ein wenig früher, der andere etwas später, die meisten aber ohne alles Fieber oder andere Symptome.

Die Seuche, schreibt einer, der das Ganze vermutlich selbst erlebt hat, gewann um so größere Kraft, wenn sie durch den Kontakt von Gesunden auf Kranke übersprang, in etwas so, wie Feuer trockene und brennbare Stoffe erfaßt und verbrennt. Ja, dieses Übel war so schlimm, daß nicht nur der Kontakt mit den Kranken die Gesunden ansteckte und den Keim des Todes in sie pflanzte, schon die Berührung der Kleider oder anderer Gegenstände, die ein Kranker benutzt hatte, schien die Krankheit dem Berührenden mitzuteilen.

Zerstörung der moralischen Ordnung 

Diese Schilderung stammt nicht von einem Arzt oder einem Historiker, sondern von dem italienischen Novellendichter Giovanni Boccaccio (1313–1375). Die hier beschriebene Krankheit ist die Pest, die auch der Schwarze Tod genannt wurde. In den Jahren zwischen 1346 und 1353 suchte sie Europa heim und forderte 25 Millionen Todesopfer. 

Boccaccio selbst hat vielleicht, ganz geklärt ist das nicht, das Auftreten der Pest 1348 und 1349 in seiner Heimatstadt Florenz miterlebt. Er hat die Seuche nach und nach als das begriffen, was sie war: die größte zivilisatorische und geschichtliche Erschütterung seiner Zeit, die in Italien die Wasserscheide zwischen Spätmittelalter und Neuzeit bildete. Nach der Pest war alles anders, und keiner hat das besser gesehen als der Kaufmann, Bankier und Jurist Boccaccio, der all das nie sein wollte, sondern immer nur ein Dichter.

Die Pestepidemie des Jahres 1348 hat Boccaccio zu seinem größten Werk inspiriert, dem Dekameron, einer Sammlung von hundert Novellen. Das Dekameron ist ein Buch mit einer Rahmenhandlung, was bedeutet: Die eigentlichen Geschichten im Buch werden von einer Anzahl fiktiver Personen erzählt, die sich damit die Zeit vertreiben. Margarete von Navarra hat das später im „Heptameron“ (1556) und der deutsche Romantiker E.T.A. Hoffmann in „Die Serapionsbrüder““ (1819) nachgeahmt.

Das Erstaunliche am Dekameron liegt darin, daß das Buch mit einer detaillierten Darstellung von Verlauf und Auswirkungen der Pest von 1347 beginnt und Boccaccio die Rahmenhandlung genau mit dem Ausbruch der Seuche einsetzen läßt. Nach der hier bereits wiedergegebenen Beschreibung des Verlaufs der Krankheit schildert Boccaccio den Zusammenbruch von Gesellschaftsordnung und Kultur. Frauen kümmerten sich nicht mehr um ihre kranken Männer, die Jungen ließen die Alten im Stich, Eltern flohen aus den Häusern, in denen ihre sterbenden Kinder lagen. Viele Menschen brachen auf den Straßen der Stadt am Arno zusammen und hauchten da, wo sie saßen und lagen, ihren Geist aus. Die Lebenden schleppten die Toten am Morgen aus den Häusern auf die Straßen und ließen sie da einfach liegen. Mit den üblichen Riten christlicher Bestattungen war es auf einen Schlag vorbei. Nicht mehr die Freunde und Hinterbliebenen des Toten, meist achtbare Bürger, trugen seine Bahre auf den Friedhof hinaus, sondern Totengräber aus dem einfachen Volk, Pestknechte genannt, schleppten ihn manchmal mit, oft aber auch ohne Priester hinaus aus der Stadt. Dort warfen sie die Leichen zu Hunderten in tiefe Gruben, die sie dann mit nur wenig Erde zuschütteten.

Zwischen März und Juni 1348 brach die Wirtschaft in und um Florenz zusammen. Die Bauern auf den Meierhöfen rund um die Stadt kümmerten sich nicht mehr um Arbeit und Besitz. Das Getreide wurde nicht mehr geerntet, Schafe, Ochsen, Esel, Kühe und Hühner wurden aus Häusern und Ställen verjagt. Boccaccio betont ausdrücklich, daß auch die Sitten der Menschen binnen Wochen verwahrlosten. Die sonst so anständigen Florentinerinnen, die sich nie einem Mann unbekleidet gezeigt hätten, verloren nun jede Scham und ließen sich von fremden Männern nun ebenso nackt sehen, wie sie es vorher nur bei ihren Dienerinnen getan hatten.

Genau in dieser Situation, auf dem Höhepunkt der Krise, setzt die Rahmenhandlung des Dekamerons ein. Sieben junge Damen und drei junge Männer, alle aus guter Familie und selbstverständlich vermögend, ziehen sich in eine Villa mit Park ein paar Kilometer außerhalb von Florenz zurück, um dort die Seuche zu überstehen. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählen sich die zehn reihum an zehn Tagen jeweils zehn Geschichten, was dann die hundert Novellen des Dekamerons ergibt. 

Die von der Pest ausgelöste Zerstörung der moralischen Ordnung gibt nun Boccaccio die Gelegenheit, eine neue humanistische Gesellschaft zu entwerfen, in der die Kommunikation zwischen Individuen in realistischen Situationen im Vordergrund steht. In den Novellen des Dekamerons handeln echte Menschen in oft derb-humoristisch zugespitzten, aber nichtsdestoweniger realen Situationen. Da finden Frauen und Männer totgeglaubte Geliebte in fremden Ländern wieder, da spiegeln total verderbte Pfaffen der Welt heilige Frömmigkeit vor, Stallknechte landen in den Betten von Königinnen, während in der berühmten Falkennovelle ein verarmter Adeliger seiner Angebeteten seinen letzten Beizfalken zum Essen vorsetzt, weil er sonst nichts mehr hat, worauf sie ihn endlich erhört.

Das ist in der Literatur etwas vollkommen Neues. Nie zuvor hat es etwas ähnliches gegeben. Die Geschichten der Antike waren immer halb mythologisch, Götter mit höchst menschlichen Charakterzügen treten in ihnen ganz selbstverständlich neben Menschen auf und greifen in deren Leben ein. Die Literatur vor Boccaccio – das ist noch in der „Göttlichen Komödie“ Dantes so – war allegorisch, sie erzählte nicht von Individuen, die alle irgendwie anders sind und unterschiedliche Leben leben, sondern von genormten Typen, die in Standardsituationen immer gleich handeln, weil das Fatum es so bestimmt.

Das Dekameron zeigt, daß Seuchen Menschen verändern. Die Pestepidemie von 1347 bildete eine Demarkationslinie zwischen Mittelalter und Neuzeit. Bei Boccaccio kündigen sich erstmals Dinge an, die Literatur, Malerei und Musik auf Jahrhunderte hinaus beeinflußt haben und noch heute spürbar sind.

Bruchpunkte in der Zivilisationsgeschichte  

Ausufernde Seuchen, Pandemien, die tödlich verlaufen können, stellen wie alle Katastrophen Bruchpunkte in der Geschichte der Zivilisation dar. Danach ist nichts mehr so, wie es vorher war. Das gilt auch für die Corona-Pandemie. Ein Virus aus einem Land, das sich modern gibt und sich so gern als die Gesellschaft der Zukunft und die Wirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts darstellt, hat Wirtschaft und Gesellschaft in großen Teilen der Welt zum Stillstand gebracht mit Folgen, an denen wir noch jahrelang laborieren werden. Wer bisher die Nachteile der Globalisierung nicht verstanden hat, der kapiert sie jetzt: Ein Virusstamm kaum anders als ein Grippevirus, der auf einem der tausend halblegalen chinesischen Märkte für Wildtiere vermutlich von einer Fledermaus auf dem Umweg über ein Gürteltier auf einen chinesischen Metzger übergesprungen ist, genügt, um die Weltwirtschaft in eine schwere Krise zu stürzen. 

In dieser nun steht wieder Staat gegen Staat. Jetzt ist klar, daß es für weltweite Probleme noch längst keine län-derübergreifenden Lösungen gibt, weil die Gremien, Institutionen und Organe dafür entweder nicht vorhanden sind oder aber nur zaghaft und ängstlich zu agieren vermögen. Und vor allem aber hat sich eines gezeigt: Das kommunistische China mit seiner von der Politik gelenkten Staatsökonomie, das auch im Westen stets gern als Vorbild hingestellt wird, ist ein Riese auf tönernen Füßen und ein Vorbild für gar niemanden. 

Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Reclam, Ditzingen 2017, gebunden, 1.070 Seiten, 28 Euro