© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

In den Mühlsteinen der Geschichte zerrieben
Innere Emigration, JF-Serie Teil IX: Baltenromane von Siegfried von Vegesack und Edzard Schaper
Günter Scholdt

Mit seiner Roman-Trilogie „Die baltische Tragödie“ (1936) schuf Siegfried von Vegesack ein literarisches Standardwerk als Longseller mit sechsstelligen Verkaufsziffern. Der Erstausgabe von „Kindlers Literatur Lexikon“ galt der Text noch als bedeutendes literarisches „Denkmal“ für die inzwischen weitgehend Vertriebenen und anschauliche Epochenbilanz „ohne jede Ausschmückung“. In der letzten Bearbeitung des Kompendiums ist jedoch für diesen bedeutenden Roman skandalöserweise kein Platz mehr. 

Dabei bietet er viererlei: eine reizvoll erzählte autobiographisch fundierte Familiensaga, die anschauliche Chronik der Deutschen im Baltikum bis 1919, einen Mustertext für verschlüsseltes beziehungsweise doppelbödiges Schreiben im Dritten Reich und eine nach wie vor weltweit taugliche Fallstudie einer (literarischen) Existenz in verfahrener historischer Situation. 

Ethnisch verschärfte soziale Differenzen

Erzählt wird aus der Sicht des heranwachsenden Aurel. Ihm erschließt sich zunehmend die Welt, zunächst über das intensive Naturerlebnis in einer magisch beschworenen Landschaft und einem lustvoll-gruseligen Eintauchen in Märchen, Gespenstergeschichten und Regionalmythen, die dem Kind vom lettischen Betreuungspersonal als heimisches Kulturerbe vermittelt werden. Weitere Bildungseinflüsse entstammen deutscher wie russischer Literatur oder religiöser Unterweisung, die durch irritierende moderne Einflüsse (Darwin, Marx, Bakunin etc.) dialektisch auf die Probe gestellt wird. Die weitere Erziehung übernehmen unverdrängbar Politik, Revolution und Krieg. 

Ihm voraus gehen nationale Identifikationsprobleme zwischen Deutschland und Rußland sowie starke, ethnisch verschärfte soziale Differenzen. In zahlreichen Episoden veranschaulicht Vegesack Armut und Unterdrückung der Landbevölkerung neben Privilegien der Elite. Er seziert deren weithin auf Immobilismus reduzierte Baltenideologie, zeigt Andersdenkende, die daran zerbrechen, und bornierte Apartheidvertreter, die sich in ihrer mangelnden Bereitschaft zum politischen Ausgleich durch die Revolutionsgreuel von 1905 scheinbar bestätigt sehen. Aurel erfährt in der dunstigen Gesindestube ihm sonst unbekanntes „derbes, ursprüngliches Leben“, zugleich aber auch, daß er hiervon wie durch eine „gläserne Wand“ getrennt ist. Erst gegen Ende des Romans ergibt sich eine Versöhnung – allerdings nur als privatmenschliche Utopie, die im bezeichnenden Kontrast zum schaurigen realhistorischen Finale steht. 

Vegesacks Diagnose mündet in generelle Zeitkritik, die auch typische Praktiken und Denkmuster der Hitler-Ära berührt. Zahlreiche Stellungnahmen im Text zeigen den Autor als engagierten Vertreter christlicher Humanität. Sie richten sich gegen Gewalt oder Despotie, sind antitotalitär, völkerversöhnend und antirassistisch. Zwar endet der Roman in einem allegorischen Treuebekenntnis zum geschlagenen Deutschen Reich, enthält aber wahrlich kein propagandistisch verwertbares Deutschlandbild, was in der Kritik zuweilen rügend vermerkt wurde. 

Zudem wählte Vegesack als Zentralfigur fast einen Antihelden, der entgegen den Zeitgeistidealen zu den (politischen) Entscheidungen eher ein ängstliches Verhältnis besitzt. Aurel ist ein weicher Knabe ohne die natürliche Sicherheit seiner Brüder. Im Ersten Weltkrieg hindern ihn „lächerliche“ Erkältungen an militärischen Einsätzen und stempeln ihn zur geborenen „Nebenfigur“, fast zum „Krepierling“. Im anschließenden Bürgerkrieg plagen ihn „abscheuliche Angst“ und Schuldgefühle wegen des Tötens. Auch begreift er die Lager nicht recht oder kann sich damit nur schlecht identifizieren. Aurel ist wahrlich kein Soldat, wie ein nationalsozialistischer Rezensent vorwurfsvoll festhielt, eher ein Zögerer zwischen den Parteien und Ideologien vom Schlage Hans Castorps in Thomas Manns „Zauberberg“. 

Diese Zwischenstellung macht den ganzen Roman zum Verhaltens- und Schreibmodell in historisch verlorener Lage. Verkörpert sein Protagonist doch gerade jenes gespaltene Leiden an einer Epoche, die zwar zu Recht abgelöst wurde, in der er sich aber heimisch fühlte. Solche Zerrissenheit kennzeichnet weltweit zahllose vorrevolutionäre Gesellschaften: von Frankreichs Ancien régime über die zaristische, von der britischen kolonial- bis zur südafrikanischen Apartheid-Gesellschaft. Und wenn wir in den blutigen Abläufen nicht nur einen notwendigen Fortschritt, sondern zugleich eine menschliche Tragödie sehen, so gilt dies in erster Linie für Einzelne guten Willens. Im Bewußtsein historischer Schuld oder Zwangsläufigkeit, aber ohne Gewißheit und Trost durch künftige Sozialparadiese, sind sie den Prinzipienkämpfen ihrer Zeit ausgesetzt und werden in den Mühlsteinen der Geschichte zerrieben.

Auch Edzard Schapers 1936 erschienener Roman „Die sterbende Kirche“ spielt im Baltikum und thematisiert die Folgen der dortigen Sowjetisierung am Beispiel einer kleinen russisch-orthodoxen Gemeinde. Der lange in Estland lebende Verfasser war ein dezidiert christlicher Autor, den Sowjets wie Nationalsozialisten gleichermaßen bedrohten. Die zeitgenössische Brisanz des Romans ergab sich dabei für Deutsche aus der von beiden Systemen kommandierten Kirchenfeindschaft.

Gordischer Knoten aus Schuld und Verstrickung

Die Handlung führt uns in die fiktive Hafenstadt Port Juminda nahe der estnisch-russischen Grenze, wo Pater Seraphim in schlichter Frömmigkeit unter schwierigsten Bedingungen des GPU-Terrors seine Gemeinde seelsorgerisch betreut. Der Text liest sich nach Wilhelm Duwe als „stilles Heldenlied auf die Verfolgungen und das Martyrium der Priester und Gläubigen der russisch-orthodoxen Kirche, das sich hier im Verborgenen vollzieht“.

Auch wenn das weltliche Schicksal von Seraphim und vielen seiner Gemeinde in der Katastrophe endet, symbolisiert durch den Einsturz der baufälligen Kirche in der Osternacht ausgerechnet durch Glockengeläut, liegt darin kein Ende aller Hoffnungen. Vielmehr versinnbildlicht die wunderbare Rettung eines jungen Paars das Weiterleben des Glaubens, der aus der Verfolgung neue Kraft gewinnt. 

1940 bot Schaper mit dem Zeitroman „Der Henker“ dem Regime ein noch größeres politisches Ärgernis. Er handelt vom deutschbaltischen Rittmeister in russischen Diensten Graf Ovelacker, der im estnisch-lettischen Aufstand von 1905 einem Standgericht vorsitzt, das ohne sein bewußtes Verschulden auch drei fragliche Urteile fällt. Er gerät zwischen alle Stühle, als sich der nationale Freiheits- und Untergrundkampf der baltischen Urbevölkerung wieder belebt und die eigenen Standesgenossen in ihm nur noch eine politische Reizfigur oder Altlast sehen. Den gordischen Knoten aus Schuld und politischer Verstrickung zerschlägt Ovelacker selbst, als er sich auf einen Sühnegang zum Totenbett des Koiri-Bauern begibt, seines Erzfeinds, dem er zwei Söhne hat erschießen lassen. Den dritten nach Sibirien verbannten Sohn verspricht er freizubitten, um dem Hof einen Erben zu erhalten. 

Der Roman trennt sich nur teilweise vom deutschbaltischen Herrschaftsanspruch und einem heute schwer erträglichen Sendungsbewußtsein. Aber er löst sich aus einem Freund-Feind-Denken zugunsten christlicher Aussöhnung. Sein Moraldiskurs mit aktuellem Bezug verläuft äußerst sensibel, und seine Psychologie erinnert an Dostojewski: „Es war, als müßte an der Wiege der Völkergröße und des Wachstums zu einer Nation immer eine schwere Schuld Pate stehen, als müßte ein neues Idol der Freiheit für alle nicht nur durch die Sklaverei der einzelnen erkauft werden, sondern als würde für die Ideale einer neuen Humanität und einer neuen Sittlichkeit von dem Staat, der sie verkündet hatte, mit Unmenschlichkeit und Unsittlichkeit gestritten durch ein Heer von Unholden, das der Staat sich als Vollstrecker seines Willens heranzüchtet.“

Das war ein harter Tobak für Alfred Rosenbergs Chefpropagandisten Bernhard Payr. Ihn empörte, daß „ein deutscher Mensch im Jahre 1940 ein Buch von 750 Seiten Umfang über das Problem der soldatischen Pflichterfüllung als Schuld veröffentlicht“. Der den Erfordernissen des Tages entlaufene, überzüchtete Autor kommentiere gar einen Beschluß der baltischen Ritterschaft unter Bezug auf den Bibelspruch, „es wäre besser, daß ein Mensch stürbe, als daß ganz Israel zugrunde ginge“. Auf „welchem Planeten“ lebe Schaper eigentlich: „So gleichgültig wie uns die Sorgen der Juden um ihr eigenes Fortbestehen sind, ebenso gleichgültig muß uns heute eine Form der Seelenzergliederung sein, die man uns immer wieder als ‘typisch östlich’ aufschwatzen wollte, die aber mit dem, was wir unter dem deutschen Osten verstehen, nichts mehr zu tun haben darf.“ Das Werk sei abzulehnen.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.