© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/20 / 20. März 2020

Falsche Software für ein Leben
Der Psychotherapeut Hans Sachs warnt vor den fatalen Auswirkungen, die eine zu frühe Fremdbetreuung bei Kleinkindern anrichten kann
Martin Voigt

Nichts prägt unser Fühlen, Denken und Handeln so sehr wie die ersten drei Lebensjahre. „Die Mutter versieht des Babys Gehirn mit einer Software, die lebenslang Steuerfunktion besitzt“, so faßt Hans Sachs Jahrzehnte an Säuglingsforschung zusammen. Der Frauenarzt, Psychotherapeut und Autor mehrerer Bücher zur Mutterliebe und Bindungstheorie führt in seinem Essayband „Sind wir noch zu retten?“ zu den wichtigsten Etappen aus über vierzig Jahren Forschung zur Entwicklungspsychologie. Sachs beschreibt, wie die die Erkenntnisse über die Bedeutung der feinfühligen Mutter für die Tiefenpsychologie aufeinander aufbauen und bietet dabei anekdotenreiche Einblicke in das Leben der Forscher. Die einzelnen Stationen von Sigmund Freud über John Bowlby bis zu Karin und Klaus Grossmann, deren Bindungstheorie in der aktuellen Hirnforschung immer mehr Bestätigung findet, beleuchten die Mutter-Kind-Bindung vom Selbstversuch bis zur Neurobiologie. 

So untersuchte etwa die Psychoanlytikerin Melanie Klein bereits in den 1920er Jahren die seelische Entwicklung ihrer eigenen Kinder. Die moderne Hirnforschung beschäftigt sich hingegen mit der Frage, wie Eltern-Kind-Beziehungen hormonelle und neurochemische Prozesse auslösen, die Struktur und Funktion des frühkindlichen Hirns massiv beeinflussen.

Zahl der Kleinkinder in Krippen steigt jedes Jahr

Stillen, Tragen, Streicheln – Rund um die Uhr für sein Baby in Liebe dasein dürfen. Eine Politik, die die sensible Einheit von Mutter und Kind unterstützt und wertschätzt, wäre ein Gewinn für das emotionale Klima in unserer Gesellschaft. Doch Müttern und Familien weht ein rauher politischer Wind ins Gesicht, konstatiert Sachs und zieht einen Bogen von der NS-Ärztin Johanna Haarer bis zum aktuellen Gender Mainstreaming. Der finanzielle und soziale Druck ist hoch, das Übel der Fremdbetreuung in einer Krippe zu wählen. „Nur-Hausfrauen“ sind weit unten im sozialen Ranking angesiedelt. Man muß kein Tiefenpsychologe sein, um zu erkennen, daß das Bild der liebenden Mutter ein wunder Punkt in unserer Gesellschaft ist. Der feministisch-marxistische Angriff auf den Schutzraum Familie ist oftmals ein persönlicher Rachefeldzug – ein Wiederholungszwang, der ins Politische getragen, ein Leid, das weitergereicht wird.

Die Zahl der Kleinkinder in Krippen steigt von Jahr zu Jahr kontinuierlich. Im Jahr 2019 waren laut Statistischem Bundesamt 818.500 unter Dreijährige in Kindertagesbetreuung. Ob wir noch zu retten sind? Es braucht eine 180-Grad-Wende, stellt Sachs klar. Ein Umdenken findet aber – wenn überhaupt – nur zögerlich statt. Die derzeit flächendeckende Fremdbetreuung von Babys und Kleinstkindern richte massiven seelischen Schaden in den heranwachsenden Generationen an, so Sachs. Und das werde sich im neurotischen Potential der Gesellschaft bemerkbar machen – ein Abwärtstrend in der Volksseele, der nur schwer wieder umkehrbar ist. Mutterliebe wird ins Herz gelegt und nicht in der Ausbildung zur Erzieherin vermittelt.

Tiefenpsychologischer Wiederholungszwang

Wie steht es aber um die Herzensbildung und die seelische Konstitution der zukünftigen Generation, die nach einer Betreuungsbiographie aus Krippe, Hort und Ganztagsschule ins Leben startet und selbst eigene Kinder großzieht? Wer selbst mit dem Gefühl, ständig abgeschoben worden zu sein, groß geworden ist, muß schon über gewaltige seelische Schatten springen, um das erfahrene Leid nicht unterbewußt weiterzugeben. Die These vom tiefenpsychologischen Wiederholungszwang, auf den Sachs in seinem Buch immer wieder zu sprechen kommt, läßt da wenig Hoffnung übrig. Das im Unterbewußten abgekapselte Leid bleibt nämlich erträglicher, wenn man die Fehler seiner Eltern durch Wiederholung einfach hinnimmt, anstatt sie schmerzhaft in Frage zu stellen. „Hat mir doch auch nicht geschadet!“ sagen die Mütter, die ihre schreienden Babys morgens in der Krippe abgeben.

Hans Sachs: Sind wir noch zu retten? Die politische Bedeutung der frühen Kindheit. agenda Verlag, Münster 2019, broschiert, 170 Seiten, 19,90 Euro