© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Viren kennen keine Parteien mehr
Bundestag: In der Corona-Krise ist die parlamentarische Kontrolle eine besondere Herausforderung / AfD mehr einbezogen als zuvor
Jörg Kürschner

Nach vorangegangenen Krisensitzungen der Bundesregierung und der 16 Länder hat der Bundestag in dieser Woche mit weitreichenden Beschlüssen deutlich gemacht, daß die Staatsgewalten auch in Zeiten der Corona-Pandemie arbeitsfähig sind. Im Eilverfahren billigte das Parlament den in einer vorgezogenen Kabinettssitzung erst zu Wochenbeginn verabschiedeten Nachtragshaushalt von rund 156 Milliarden Euro, um die deutsche Wirtschaft zu stabilisieren. 

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte sich mehrfach mit den Parlamentarischen Geschäftsführern der sechs Fraktionen abgestimmt, um die Gesetzgebungsmaschinerie trotz der gesundheitsbedingten Einschränkungen am Laufen zu halten. „Als Abgeordnete stehen wir in besonderer Pflicht zum verantwortungsvollen Umgang mit der Krise und zu besonnenem Handeln“, schrieb er an die Abgeordneten. Steigt die Zahl von infizierten Abgeordneten rapide, fehlen diese also bei Abstimmungen wegen erzwungener Quarantäne, ist die Handlungsfähigkeit des Bundestags ernsthaft bedroht. Ein Schreckgespenst, wenn die Gewaltenteilung beeinträchtigt wäre. Die Dimension der Krise hat dazu geführt, daß die dauerausgegrenzte AfD einbezogen wurde in die Absprachen und sich auch selbst um eine konstruktive Mitarbeit bemühte.

„Zu fairen Lösungen jederzeit bereit“

Zu den Absprachen zählt etwa das Pairing, wonach für jeden kranken oder dringend verhinderten Abgeordneten der Regierungsfraktionen ein Abgeordneter der Opposition Abstimmungen im Parlament fernbleibt, um damit das Kräfteverhältnis zu wahren. Das Problem ist, daß die Fraktionsführungen ihren Abgeordneten nicht den Gang in den Plenarsaal verbieten können. Ein Arrangement, das in der AfD-Fraktion unter Hinweis auf die beharrliche Weigerung der Bundestagsmehrheit, eines ihrer Mitglieder zum Vizepräsidenten zu wählen, keinesfalls unumstritten war. Immerhin war es die damalige Oppositionsführerin Angela Merkel (CDU), die 2002 das Pairing-Abkommen mit der SPD-Koalitionsfraktion gekündigt hatte. Der Grund: Die SPD weigerte sich, der Union einen zweiten Vizepräsidentenposten zuzugestehen.

„Die AfD ist zu fairen Lösungen jederzeit bereit“, hatte ihr Erster Parlamentarischer Geschäftsführer Bernd Baumann schon frühzeitig signalisiert. Und auch einer weiteren, außergewöhnlichen Regelung stimmte die größte Oppositionsfraktion zu. Verabredet wurde eine Änderung der Parlamentsgeschäftsordnung. Bis zum 30. September reicht ein Viertel der insgesamt 709 Abgeordneten, um rechtsgültige Beschlüsse zu fassen. Bisher war erforderlich, daß „mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend sind“. Wie beim Pairing würden die Fraktionsführungen weniger Abgeordnete zur Abstimmung ins Plenum schicken. 

Am Mittwoch war aber noch einmal die absolute Mehrheit der Abgeordneten nötig, mindestens 355 Parlamentarier (Kanzlermehrheit) mußten dem Aussetzen der Schuldenbremse zustimmen. Die FDP, die sich gern als das ordnungspolitische Gewissen der Politik versteht, warnte aber vor einer dauerhaften Veränderung der sozialen Marktwirtschaft, etwa durch dauerhafte Staatsbeteiligungen an Unternehmen.

„Die Zusammenarbeit geht ziemlich weit“, resümierte Baumann im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Aber nicht so weit, daß die tiefgreifende Krise die tiefgreifenden Unterschiede zwischen der AfD und den etablierten Parteien überdecken könnte. Die AfD wollte sich nicht damit zufriedengeben, daß die Abgeordneten nur etwa 30 Minuten über acht, das Land und die Menschen finanziell und gesellschaftlich prägende Gesetze debattieren sollten, wie es die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD vorgeschlagen hatten. Die Gesetzesvorhaben sollten entsprechend der Ressorts etwa Gesundheit, Arbeit und Soziales, Recht sowie Finanzen und Haushalt von den Fachpolitikern behandelt werden, betonte Baumann. Zu einschneidend seien die Maßnahmen, um sie im Hauruckverfahren abzuhaken. Das Kontrollrecht der Legislative gegenüber der Exekutive müsse gewahrt werden. Ähnlich äußerte sich auch FDP-Fraktions- und Parteichef Christian Lindner.

Die ursprüngliche Tagesordnung war ohnehin erheblich eingedampft worden. Von drei Sitzungstagen blieb nur einer, der Mittwoch, übrig. Neben den Corona-Gesetzen ging es nur noch um den Bundeswehreinsatz im Irak. Auf die in gewöhnlichen Sitzungswochen üblichen Fragestunden und Aktuelle Stunden wurde verzichtet. Kanzlerin Merkel mußte in Quarantäne die geplante Regierungserklärung ihrem Stellvertreter, Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) überlassen. In ihrer Berliner Wohnung wird sie den Fernseher eingeschaltet haben. Erhebliche Vorsichtsmaßnahmen waren eingeleitet worden. Die Abgeordneten sollten auf Abstand halten, konnten die Debatte in ihren Büros verfolgen und zeitlich gestreckt per Wahlurne außerhalb des Plenarsaals abstimmen. So sollte das Infektionsrisiko minimiert werden.

Bereits Anfang März hatte Schäuble Dienst- und Auslandsreisen untersagt, die Mitarbeiter in den Fraktionen und der Verwaltung wurden angehalten, mobil zu arbeiten. Für die AfD-Fraktion hatte der Parlamentarische Geschäftsführer Enrico Komning vor zwei Wochen einen Krisenstab gebildet, um einen Notbetrieb der rund 90 Abgeordneten zu organisieren. 

Nach dem Bundestag wollte der Bundesrat an diesem Freitag in einer Sondersitzung über das seit Gründung der Bundesrepublik beispiellose Finanzpaket befinden. Eine Mehrheit gilt als sicher.