© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Solange noch ein Buch zur Hand ist ...
... kann eine Lage nicht verzweifelt sein: Zeit seines Lebens war der Autor Ernst Jünger ein passionierter Leser
Thorsten Thaler

Den wesentlichen Teil meines Lebens habe ich als Leser verbracht. (... ) Seitdem ich lesen konnte, ist kaum ein Tag vergangen, in dem ich mich nicht ein Buch oder deren mehrere beschäftigten“, notierte Ernst Jünger in seinem Alterstagebuch „Siebzig verweht V“. Tatsächlich ist der Jahrhundertautor nicht ohne seine vielfältigen Lektüren denkbar. Immer wieder hat Ernst Jünger darauf hingewiesen, welche Bedeutung Bücher für ihn haben. „Tröstlich wie immer bleiben die Bücher als leichte, zuverlässige Schiffe für Fahrten in Zeit und Raum und darüber hinaus. Solange noch ein Buch zur Hand und Muße zum Lesen da ist, kann eine Lage nicht verzweifelt, nicht gänzlich unfrei sein“, hält er am 24. Juli 1945 in seinem Tagebuch „Die Hütte am Weinberg“ fest.

Dem Notat folgt eine Erinnerung an die letzten Monate des Ersten Weltkriegs, wie er sie „Im Wäldchen 125“ beschrieben hatte: „Gewitterregen brach über unsere Erdlöcher herein, auf denen die eigene und die englische Artillerie ihr Feuer vereinigten. Ich lag auf einem Holzrost über dem Grundwasser, oben durch einen einfachen Wellblechbogen geschützt. Zugleich war ich aber im Berlin der Gründerzeit, denn ich las ‘Irrungen, Wirrungen’ von Fontane. Es will mir sogar scheinen, also ob ich mich lebhafter an Einzelheiten des Romans erinnere als an die Mißhelligkeiten der Stellung dort. Das deutet auf die geistige Freiheit, die das Kunstwerk mitteilen kann. Dafür muß man dem Autor dankbar sein. Er spendet unschätzbaren Trost.“ 

Bücher trösten und festigen das Dasein

Mit diesem Eintrag spricht Jünger ein wichtiges – wenn auch beileibe weder das einzige noch das vorherrschende – Motiv seiner Leselust an: Trost. Jünger verwendet diesen Ausdruck häufiger. Sicher wußte der im Umgang mit Sprache früh geübte Autor um die etymologische Herkunft des Begriffs, der ursprünglich soviel bedeutete wie „(innere) Festigkeit“ und zu dessen Wortgruppe auch „treu“ (eigentlich: „stark, fest wie ein Baum“) gehört. Diese Festigkeit der Existenz schreitet mit zunehmendem Alter und jeder weiteren Lektüre voran. So notierte er in „Sgraffiti“ (1960) über das Lesen als ideales Laster, daß wir zuletzt mit einem Dutzend Bücher als „eiserner Ration“ leben. „Sie trösten uns in der Einsamkeit des Alters, im Unglück, in der Armut, selbst in den Gefängnissen.“ 

Ernst Jünger hat zeit seines Jahrhundertlebens immer gelesen, von frühester Kindheit an. Das Lesen war ihm Fluchtbewegung und Trostsuche zugleich. Flucht aus einer Welt, die Jünger bereits im zarten Knabenalter als fremd und abweisend erfahren hat, und Trost in einer Zeit, der er sich nicht zugehörig fühlte. Die häufigen Umzüge der Eltern und zahlreiche Schulwechsel machten ihm schwer zu schaffen; nirgendwo konnte er engere Freundschaften schließen oder geistige Wurzeln schlagen. Einzig die Welt der Bücher eröffnete ihm den Raum seines Daseinsgrundes, sie wird „zur einzigen Form der Freiheit, in der die Erfahrung von Kontinuität möglich ist“, wie sein Biograph Heimo Schwilk ausführt. „Lesen und Träumen“, so Schwilk, sind für Jünger Ausstiegsluken aus der als zu eng und profan empfundenen Gesellschaft; Lesen ist Fluchtbewegung, ein Hineintauchen in den magischen Innenraum jenseits der Zeit ( ... ) die Berührung mit dem wahren Leben im Zeitlosen.“ Bis spät in die Nacht hinein liest der Schüler Ernst Jünger die Romane von Friedrich Wilhelm Hackländer, Heinrich Zschokke, Graf Platen, den „Don Juan“ von Lord Byron, Cervantes’ „Don Quichote“, die Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“, den „Robinson Crusoe“ oder Detektivgeschichten mit Nick Carter und Sherlock Holmes. „Das nächtliche Lesen wird zu einer Überlebensfrage“, schreibt Schwilk.

Das gilt auch und erst recht später, in den Stahlgewittern des Ersten Weltkrieges. Stets hat Jünger ein Buch zur Hand. Seine Interessen sind breitgefächert, er liest neben dem bereits erwähnten Fontane unter anderem das Reisebuch „Mit meinen Augen“ von Hanns Heinz Ewers, Leonhard Franks Roman „Die Räuberbande“, Alfred Kubins „Die andere Seite“ und Laurence Sternes „Tristram Shandy“, Karl Mays „Das Waldröschen oder die Verfolgung rund um die Erde“, Ariosts „Rasenden Roland“ und „Cäsars Denksäule“ von lgnatius Donnelly, er liest russische Klassiker von Gogol, Dostojewski, Tolstoi, und er liest Schopenhauer.

So ist es immer wieder vor allem die Literatur, die Ernst Jünger über Situationen auf verlorenem Posten hinweghilft (Heimo Schwilk). Der Schriftsteller selbst hat Jahrzehnte später in „Sgraffiti“ notiert, zu den „Kennzeichen des wahren Lesers“ gehöre eben, daß er sich die Zeit zum Lesen notfalls stehlen müsse, „wie der Liebende für die Geliebte Zeit hat, müßte er auch alles andere vernachlässigen“. 

Neben Flucht und Trost tritt bei Jüngers Lektüren freilich stets eine dritte Suchbewegung hinzu: das Aufspüren verborgenen Wissens. Sicher hat Ernst Jünger gelegentlich auch einfach nur zur Entspannung oder Unterhaltung gelesen. Doch „von einem Buch, das diesen Namen verdient, ist zu erwarten, daß es den Leser verändert hat. Nach der Lektüre ist er nicht derselbe mehr“, hält er in „Autor und Autorschaft“ (1984) fest.

Jüngers ruheloser Geist, seine Neugier und Wißbegierde sind auf Erkenntnis und Durchdringung der Welt gerichtet. „Das erste Aufschlagen eines Buches hat für mich eine mantische Bedeutung wie ein Anklopfen“, notiert er am 7. Januar 1988 in seinem Alterstagebuch. „Vielleicht bleibt die Tür verschlossen – daß sie häufig geöffnet wird, folgt daraus, daß man bei einem Autor, der diesen Namen verdient, fast auf jeder Seite einen Satz findet, der zum Nachdenken oder sogar zum Meditieren reizt“ (Siebzig verweht IV).