© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Weltgewandter als gedacht
Carola Groppe überwindet in ihrer Bildungsgeschichte des Bürgertums des Kaiserreichs gängige Klischees eines deutschen Sonderwegs
Eberhard Straub

Die Theorie vom deutschen Sonderweg in der sogenannten Moderne gehörte lange zu den  nahezu unumstößlichen Gewißheiten deutscher Geschichtspolitik. Bundesdeutsche Historiker und Politologen, die an ihre akademische Laufbahn dachten und als Hochkarätige im öffentlichen Gespräch unentbehrlich werden wollten, mußten sehr darauf achten, nicht in den Verdacht zu geraten, am Sonderweg zu zweifeln. Er gehörte zur pädagogischen Absicht, die Deutschen endlich zu verwestlichen und als Westdeutsche ihnen einen angemessenen Platz in der Gemeinschaft zuverlässiger Demokraten und Mitmenschen zu verschaffen. Es waren die Westalliierten im Ersten Weltkrieg, die den Deutschen vorwarfen, eine Gefahr für die Freiheit zu sein und die allgemeine Befreiung von autoritärem Feudalismus und Militarismus durch Demokratisierung, Parlamentarismus und weltweiten Freihandel entschlossen zu behindern. 

Das Zerrbild des Bürgers als beflissenen Untertanen

Die Umerziehung und „Entnazifizierung“ nach der bedingungslosen Kapitulation 1945, die auch eine geistige war, galt dem Zweck, die Deutschen endlich westlichen Vorstellungen vollständig zu unterwerfen, um sich vor weiterem Unheil zu schützen, das erfahrungsgemäß von Deutschland ausging und die friedliebende Menschheit dazu nötigte, moralisch und praktisch hochgerüstete zu bleiben. Deutsche Historiker und Politologen sahen ihre besondere Aufgabe darin, dieses Programm als geschichtspolitischen Auftrag wahrzunehmen. Die Verwestlichung ist so umfassend gelungen, daß mittlerweile Historiker zaghaft vorschlagen können, darüber nachzudenken, ob das Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg wirklich so ganz anders und ein erklärter Feind des Menschengeschlechtes war. Carola Groppe schließt sich in ihrem Buch zum Bürgertum im deutschen Kaiserreich mit gebotener Vorsicht diesen Versuchen eines Revisionismus an, der leicht den Verdacht zu erregen vermag, einzigartige deutsche Vergehen zu relativieren.

Daß sie nicht mangelhaft verwestlicht ist, veranschaulicht der amerikanische Jargon, der Wissenschaftlichkeit vortäuscht durch unbestimmte und vieldeutige Wortbildungen wie Forschungsdesign, Diskursdominanz mit Hilfe von Analyseparadigmen, die es erlaubten, die Bildungssystemanalyse der Bürgerlichkeit wirklich analytisch zu betreiben. Das gehe nicht ohne Konzepte, die „stringent konzeptualisiert“ sind. Dafür müßten „textliche wie bildliche Inszenierungen der Selbstrepräsentation“ gründlich berücksichtig werden, um „die bürgerliche Sozialisation als Interaktion zu begreifen“, denn „Sozialisation ist die mikrosoziale Praxis des Zusammenlebens“. „Im Rahmen kulturgeschichtlicher Ansätze“ dürften Erzählungen, auch „Narrative“ genannt, Rituale, symbolische Weltdeutung nicht vernachlässigt werden, um die Theorieperspektive nicht aus den Augen zu verlieren, die als „kritisches Anliegen“ im „Fragerahmen“ des Kaiserreichs immer verpflichtend bleibe.  

Wer sich von diesem Kauderwelsch nicht abschrecken läßt, mit dem Wissenschaftler sich wechselseitig ihre verwestlichte Wissenschaftlichkeit bestätigen, erfährt, was er vielleicht schon ohnehin vermutete, daß die Bürger als beflissene Untertanen im Obrigkeitsstaat, wie sie die Verfechter des deutschen Sonderwegs schilderten, nichts mit der Bürgerlichkeit im Kaiserreich zu tun haben. 

Carola Groppe beschäftigt sich mit der verzweigten und international beachteten Unternehmerfamilie Colsmann aus Velbert. Sie belegt mit diesem Beispiel, das idealtypisch die Lebensformen und Mentalität der Wirtschaftsbürger mit einer gewissen Nähe zu kulturprotestantischer Bildungsbürgerlichkeit veranschaulicht, daß die bürgerliche Gesellschaft im Kaiserreich sich gar nicht grundsätzlich von der „des Westens“ unterschied. 

Es handelte sich um freie, national-liberale Deutsche, die durch die Schule und das Elternhaus erfuhren, wie Bildung befreit, eben selbständig macht, zu eigenem Denken erzieht und zur Bereitschaft, nicht blind Autoritäten zu gehorchen, sondern im Vertrauen auf die eigene Sachkenntnis und systematisch geschulte Phantasie ein tätiges Leben zu führen. Pflichtbewußtsein und Disziplin waren selbstverständlich, anständige Manieren, Umgänglichkeit und eine Anteilnahme am Gemeinwohl über Stiftungen und religiös motivierte Wohltätigkeit. Eine Reihe von sozialen Tugenden – Mäßigung, Gerechtigkeitssinn, Geduld und Beharrlichkeit – in Anlehnung an das durch die Jahrhunderte überlieferte und stets beherzigte Werk des Römers Marcus Tullius Cicero „Vom pflichtgemäßen Handeln“ wurde weiterhin als nützlich und sittlich empfohlen, um eine Balance zwischen Vernunft, Gemüt und Leidenschaft nie zu verlieren. 

Unterschiede nur durch eine phantasievollere Tüchtigkeit

Es galt eine Ausgewogenheit zu wahren zwischen dem öffentlichen Auftreten und der Privatheit, zwischen der Pflicht zur geselligen Repräsentation und der Gemütlichkeit. Der Mann war keineswegs der Haustyrann, sondern der gebildete Gefährte einer Frau, die er meist aus Neigung geheiratet hat und die durchaus Anteil nehmen durfte und sollte an den Geschäften und deren Herausforderungen. Beschränkt auf die Küche konnte sie gar nicht sein, weil sie dafür Dienstboten hatte. Sie mußte sich allerdings mit den Aufgaben einer geschickten Haushaltsführung auskennen, um anordnen und die Angestellten geschickt einsetzen zu können. 

Für die Angehörigen einer Firma, die sich auf dem Weltmarkt bewegte, waren Reisen, lange Auslandsaufenthalte und Kenntnis mehrerer Sprachen unerläßlich. Das schloß auch ein, mit der Literatur, dem Theater und der Geschichte verschiedener Nationen allmählich vertraut zu werden, was dem Zusammenleben förderlich war und die Verhandlungen mit anders, eben auf ihre Art national geprägten Vertragspartnern und Geschäftsfreunden erleichterte. 

Der Nationalismus erschwerte gerade nicht den Verkehr, sondern er weckte Freude an der Mannigfaltigkeit der Lebens- und Denkformen. Politisch war der Bürger im Kaiserreich sehr aktiv, das Bild vom weltfremden, sich in machtgeschützte Innerlichkeit zurückziehenden Biedermeier entsprach nicht der Wirklichkeit. Den rasanten sozialen und geistigen Wandel immer im Blick, war der Handelsmann und Unternehmer, der gebildete Bürger, gar nicht in feudalen oder militaristischen Vorurteilen befangen rückständig und unmodern, sondern, ganz im Gegenteil, beweglich und darauf bedacht, den Ansprüchen der Zeit vollauf gerecht zu werden und den Anschluß nicht zu verpassen. 

In diesem Sinne wurde schon vor dem Jahrhundert des Kindes, dem zwanzigsten Jahrhundert, viel Rücksicht auf die Neigungen der Kinder genommen, um ihnen dabei zu helfen, sich ihrer Fähigkeiten bewußt zu werden und ihren eigenen Weg ins Freie zu finden, ohne sich von den bewährten Lebensformen der Bürgerlichkeit zu lösen. Kurz und gut – die Bürger waren „westlich“, sie unterschieden sich von anderen Bürgern im „Westen“ höchstens wegen rascherer Energie und phantasievollerer  Tüchtigkeit. Sie mußten keinen Weg umständlich suchen, der sie in den „Westen“ führte. Dessen Ideologie wurde erst im Ersten Weltkrieg formuliert. Bis dahin waren Deutsche Europäer wie die übrigen Angehörigen anderer Nationen. Das ruft Carola Groppe in Erinnerung.

Carola Groppe: Im deutschen Kaiserreich. Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871–1918. Böhlau Verlag, Köln 2019, gebunden, 528 Seiten, 65 Euro