© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Drei Pfund Tofu mit Selbsterfahrung
Stagnation in der Hirnforschung? / Mühsame Suche nach den neuronalen Korrelaten des Bewußtseins
Dieter Menke

Christof Koch ist als Sohn eines deutschen Diplomaten schon als Kind viel herumgekommen: Geboren in Kansas City (Missouri) wuchs er später auch in den Niederlanden und Kanada auf. Das Abitur legte er an einer Jesuistenschule in Marokko ab, seine Promotion erfolgte 1982 am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen.

Inzwischen ist der 63jährige Präsident des Allen Institute for Brain Science in Seattle, und hier widmet er sich der Frage aller Fragen in den Neurowissenschaften: Was ist Bewußtsein? Wie erzeugt unser Gehirn das Phänomen der „Bewußtseinserfahrung“, das innere – das „Ich und seine Gefühle“ – und äußere Wahrnehmungen integriert? (Spektrum der Wissenschaft, 2/20).

Im Kleinhirn viermal so viele Nervenzellen

Wirklich vorangekommen ist die Hirnforschung der vergangenen Jahrzehnte aber allenfalls auf der Suche nach den neuronalen Korrelaten des Bewußtseins, den minimalen physiologischen Aktivitäten, die notwendig sind, um eine spezifische Bewußtseinserfahrung zu erzeugen. Mittels „Versuch und Irrtum“ seien das Rückenmark und das Kleinhirn als Sitz des Bewußtsein ausgeschieden worden. Durchtrenne man das Rückenmark, den Nervenfaserstrang in der Wirbelsäule mit ungefähr einer Milliarde Nervenzellen, etwa in der Nackenregion, so ist der Betroffene zwar gelähmt, könne weder Arme und Beine bewegen noch Darm und Blase kontrollieren. Aber ein derart körperlich schwer behinderter Mensch sei geistig intakt und sich seiner selbst bewußt. Er denke, erinnere sich und habe Gefühle.

Ähnlich verhalte es sich bei Patienten, denen ein Schlaganfall Teile des Kleinhirns außer Funktion setze. Dieser evolutionsgeschichtlich alte Hirnteil, wo sich mit 69 Milliarden viermal so viele Nervenzellen befinden wie im gesamten restlichen Gehirn, kontrolliert die menschliche Motorik. Auch hier richte ein Ausfall wenig Schaden an.

Selbst wer ohne Kleinhirn zur Welt komme, leide kaum unter eingeschränktem Bewußtsein. Zudem ist das Kleinhirn in Hunderte eigenständige Rechenmodule aufgeteilt. Jedes arbeitet parallel mit eigenen, sich gegenseitig nicht überlappenden Ein- und Ausgangssignalen, um Bewegungen zu steuern. Die einzelnen Module interagieren nur selten miteinander, was für bewußtes Erleben jedoch unabdingbare Voraussetzung wäre.

Also nicht im Rückenmark, nicht im Kleinhirn, sondern in der grauen Substanz der Großhirnrinde, genauer in deren hinterem Areal zwischen Scheitel-, Schläfen- und Hinterhauptlappen, liegen die neuronalen Korrelate des Bewußtseins. Alle verfügbaren Anhaltspunkte sprächen dafür, daß diese „hintere heiße Zone“ der Sitz des Bewußtseins ist, daß hier alle Gefühle inklusive des Selbstgefühls erzeugt würden.

Stimuliert man diese Zone mit Stromstößen, löst das bei Patienten eine Vielzahl ausgeprägter Wahrnehmungen und Gefühle aus: „Manche sehen Lichtblitze, geometrische Formen oder verzerrte Gesichter, andere berichten von akustischen Halluzinationen oder Gefühlen großer Irrealität“. Das Entfernen bereits kleinster Bereiche dieses Areals könne daher das Empfindungsspektrum stark einschränken, so daß etwa die Fähigkeit verloren gehe, Farben, Gesichter oder Räume wahrzunehmen.

„Theorie der integrierten Information“

Zwar hätten Hirnforscher somit den Ursprung des Bewußtseins lokalisiert, aber dessen Entstehung nicht erklärt, weil sie nicht wüßten, worin sich die neuronalen Mechanismen der Region im hinteren Cortex von denen im Rest der Großhirnrinde unterschieden. Derzeit konkurrieren zwei Haupttheorien darum, das Mysterium zu entschleiern. Eine ist die des „globalen neuronalen Arbeitsraums“, die vom Amsterdamer Psychologen Bernard Baars und den französischen Neurowissenschaftlern Stanislas Dehaene und Jean-Pierre Changeux stamme. Demnach entstehe Bewußtsein aus einer bestimmten Art von Informationsverarbeitung in neuronalen Netzwerken des Hirns, deren Funktionsprinzip künstliche Intelligenz schon erfolgreich imitiere. Daher geht diese Theorie davon aus, daß Maschinen zukünftig Bewußtsein erlangen.

Dagegen steht die von Koch mitent-wickelte „Theorie der integrierten Information“. Demnach verfügt ein System um so mehr Bewußtsein, je mehr Information es in sich integriert und vielfältig verarbeitet. Alle Eindrücke bilden eine untrennbare Einheit, die sich nicht in Einzelphänomene zerstückeln lasse. Folglich könne keine noch so ausgeklügelte Computersimulation eines menschlichen Gehirns jemals Bewußtsein erlangen.

Bewußtsein lasse sich nicht programmieren, es müsse dem System inhärent sein. Nur das vielschichtige Zusammenwirken der Neurone werde die Forschung sukzessive besser verstehen. Ein Unterfangen, das sie bei der immensen Komplexität unseres Nervensystems aber noch Jahrzehnte beanspruche. Dann vielleicht gebe es eine Theorie, die plausibel macht, wie aus einem drei Pfund schweren Organ mit der Konsistenz von Tofu ein Gefühl für das Selbst entspringe.