© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/20 / 27. März 2020

Mehr als nur gefärbte Brause
Opioide: Tilidin und Codein sind zu Trenddrogen in jugendlichen Subkulturen geworden
Martina Meckelein / Hermann Rössler

Die Jugend von heute feiert sich dafür, Codein und Tilidin einzunehmen. Die klöppeln über ihren Drogenkonsum Liedchen zusammen, machen dazu Filme und stellen alles auf Youtube. Betrachtungen über eine Jugend, die sich für cool hält, weil sie Hustensaft trinkt und Schmerztabletten kaut, im Glauben, daß es sich nur um Medizin handelt. 

Sie nennen sich „Medikamentenmanfred“, „Hustensaftjüngling“ oder „Caramelo“. Die Jüngelchen besingen Codein als angesagte Droge. Ein Statussymbol, abgekupfert von der amerikanischen Rapkultur, in der der Hustensaft einen hohen Stellenwert besitzt. 

Mittlerweile verarbeiten auch bekannte Deutschrapper wie Ufo361 oder die 187Straßenbande die Substanzen in ihren Texten und Videos. Die Rapper Capital Bra und Samra haben vergangenen Sommer gleich einen ganzen Song „Tilidin“ genannt, der bisher über 55 Millionen Klicks erreicht hat. Die Stoffe seien angeblich schwerer zu besorgen als Haschisch, Koks oder Ecstasy. 

Codein ist ein Opiat. Das Schmerzmittel wurde früher rezeptfrei gegen Reizhusten verabreicht. Kinder nahmen den rosafarbenen Saft schon in den sechziger Jahren. Wohlige Wärme breitete sich aus, der Atem wurde ruhiger und der Husten ebbte ab. Die Gefahr bei dem Medikament ist allerdings die dämpfende Wirkung auf die Atemfrequenz. Heute ist es verschreibungspflichtig, Kindern darf es nicht verschrieben werden. Rezeptfrei bekommt man es nur noch illegal im Internet – oder beim Dealer seines Vertrauens. 

Die Preise variieren teilweise stark

Eine ganze Subkultur mit eigener Sprache wurde so aus dem Boden gestampft. Die angesagten Drogen dürfen dabei natürlich nicht fehlen. „Turn­up“ ist das Stichwort, worunter „sich high machen“, wahlweise „sich dicht machen“ mit den „Boys“ verstanden wird. Das vermittelte Lebensgefühl ist bestimmt von Abschottung auf der einen und Party auf der anderen Seite. Ein fester Freundeskreis ist wichtig. 

Gleichzeitig ist die Musik durch die virtuelle Social-Media-Realität geprägt. „High von dem Lean“ heißt beispielsweise ein Lied des Musikers Young Krillin, das er zusammen mit Rich Homie Romeo und Crack Ignaz aufnahm. Der Takt des Lieds ist deutlich verlangsamt, die Stimmen wirken dadurch tiefer und unverständlich. 

In dem Video sieht der Zuschauer eine typische, im Deutschrap schon fast ikonische Szene: Die Zitrusbrause verfärbt sich langsam lila, wenn der Hustensaft in schwebeartigen Schlücken hinzugefügt wird. Auf dem Tisch liegen ein Revolver und Zigaretten. Ein Kommentator schreibt unter dem Video „Beste musikalische Interpretation über den Zustand auf Lean“.

Die JUNGE FREIHEIT sprach mit einem Konsumenten: „Eine Zeitlang habe ich Codein zu Slow-Techno-Partys genommen.“ Die Droge besorgt er sich über eine Freundin mit besten Kontakten. „Sie kommt durch ihre Mutter, die Ärztin ist, leicht ran.“ Der junge Mann ist allerdings ein Mischkonsument, heißt, er nutzt parallel unterschiedliche Drogen – ein überaus riskantes Vorgehen. „Codein trinke ich pur. Etwa 150 bis 300 Tropfen reichen für einen Rausch aus. Ich kiffe dazu. Aber irgendwann habe ich das mit dem Codein wieder sein gelassen. Gras hat eine ähnliche Wirkung.“ Er formuliert das so: „Gras prellt besser, aber alles ist eine Frage des Geschmacks.“

Das synthetisch hergestellte Tilidin ist ein schwach wirkendes Opioid und  seit 1967 im deutschen Handel erhältlich. Es wird gegen mittelstarke Schmerzen eingesetzt und hat ohne Frage eine hohe Suchtgefahr. Deshalb wird ihm in Arzneien Naloxon beigemengt. Das wiederum soll bei Überdosierung die betäubende Wirkung des Tilidin aufheben, was Entzugserscheinungen bewirken kann. Damit soll der Suchteffekt und die Abhängigkeit unterbunden werden. Tilidin unterliegt seit 2013 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung.

Hunderttausende sind medikamentenabhängig

Und wie teuer ist der gefährliche Medikamenten-Flash? Im Internet sind seitenlange Abhandlungen über die Straßenverkaufspreise nach Orten zu finden. Die Preise schwanken zwischen 30 Euro in Thüringen für 5,5 Milliliter Tilidin-Sirup oder nur einen Euro in Erfstadt (Nordrhein-Westfalen) für eine Tramadol-Pille mit 100 Milligram Wirkstoff.

Der Drogenbericht des Bundeskriminalamtes nennt die Sterbezahlen für illegale Drogen, im Jahr 2018 waren es 1.276 Tote. Beim Tabak geht man von bis zu 140.000 Toten in Deutschland jährlich und beim Alkohol von ca. 74.000 Toten aus. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. veröffentlichte 2018 eine Studie, nach der schätzungsweise 1,9 Millionen Menschen in Deutschland abhängig sind von Medikamenten mit Suchtpotential. 2005 waren es noch 300.000 Menschen weniger.