© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Was erstritten unsre Ahnen
Infektionsschutz: Debatte über die weitgehenden Eingriffe in Freiheitsrechte
Jörg Kürschner

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gehört zu jenen Politikern, die ihre Worte wägen und nicht vorschnell Sprechblasen abliefern. „Die anhaltend dynamische Entwicklung macht es notwendig, die Lage täglich neu zu bewerten“, schrieb er bereits am 12. März in einem Brief an die 709 Abgeordneten. Eine typische Schäuble-Äußerung, die im Ungefähren bleibt, aber einen konkreten Hintergrund hat. Die schnoddrige Bemerkung seines Amtsvorgängers im Innenressort, Hermann Höcherl (CSU), aus längst vergangenen Zeiten, er trage „nicht ständig das Grundgesetz unter dem Arm“, würde Schäuble, Jurist und zweimaliger Bundesinnenminister, nie über die Lippen kommen. 78 Jahre alt, davon 48 Jahre Parlamentarier, da kennt er sein Grundgesetz und weiß, daß es zwar den Verteidigungsfall regelt, nicht aber den Notfall einer Seuche.

Die Verfassung sieht einen „Gemeinsamen Ausschuß“ (GA) von Bundestag und Bundesrat als Notparlament im Verteidigungsfall vor, wenn das Parlament nicht rechtzeitig zusammentreten kann. Das Gremium besteht aus nur 48 Mitgliedern, davon sind zwei Drittel Abgeordnete des Bundestags und ein Drittel Mitglieder des Bundesrats. Den CDU-Politiker besorgt die Handlungsfähigkeit des Staates, wenn Beschlüsse an infizierten Parlamentariern scheitern könnten.

Erste Vorsichtsmaßnahmen hat der Bundestag bereits getroffen. In der vergangenen Woche änderten die Parlamentarier nahezu einstimmig die Geschäftsordnung. Bis Ende September ist der Bundestag schon beschlußfähig, wenn nur ein Viertel der Abgeordneten im Plenum ist. Bislang hatte mindestens die Hälfte aller Parlamentarier zu erscheinen. Das heikle Thema Notparlament wurde ausgespart. Aus zwei Gründen.

Eine dem Verteidigungsfall ähnliche Regelung für Seuchen wäre ein einschneidender Schritt, der nicht im Eiltempo vorgenommen werden könnte. Das Grundgesetz kann aber nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat geändert werden. Angesichts der Corona-Krise könnte es schwierig werden, so viele Abgeordnete beziehungsweise Ländervertreter ohne Ansteckungsgefahr zusammenzuholen. Und neben den formalen Hürden gibt es inhaltliche.

Der Verteidigungsfall wurde 1968 von der ersten Großen Koalition im Rahmen der Notstandsgesetze verabschiedet; gegen die Stimmen der FDP und den erbitterten Widerstand der außerparlamentarischen Opposition (APO). „Die Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht“, erlaubt im Rahmen der Notstandsverfassung erhebliche Eingriffe in Grundrechte, etwa der Freizügigkeit oder des Brief- und Postgeheimnisses.

Nach Verhältnismäßigkeit immer wieder neu fragen

Die in Friedenszeiten irritierende Machtfülle des GA im Verteidigungsfall ist in seiner Dimension nicht vergleichbar mit dem Kompetenzzuwachs der Exekutive, der gerade vom Bundestag und Bundesrat im Eilverfahren gebilligt worden ist. Konkret geht es um das Infektionsschutzgesetz (IfSG). Um Pandemien zu verhüten und zu bekämpfen, etwa durch Veranstaltungsverbote, durften bisher die Grundrechte auf Freiheit der Person, Versammlungsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt werden. Aktuell ist noch ein weiteres Grundrecht hinzugekommen, die Freizügigkeit. Was mehrere hundert Wochenendausflügler im Harz bereits zu spüren bekamen, die das Ilsetal besuchen wollten. Die Regierung in Magdeburg hatte festgelegt, daß Reisen aus touristischem Anlaß nach Sachsen-Anhalt untersagt sind. Dies gelte auch für Reisen zu Freizeitzwecken, heißt es in der entsprechenden Verordnung. Höflich aber bestimmt untersagte die Polizei die Weiterfahrt der Touristen, die umkehren mußten.

Doch die Verschärfung des Paragraphen 28 IfSG geht noch weiter. Beschränkungen waren bisher nur erlaubt, „bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“. Dieser Satz fehlt in der Neufassung. Mit anderen Worten: Die Grundrechtseinschränkung kann fortbestehen, auch wenn der behördliche Zweck wie beispielsweise der Abbruch eines Fußballspiels längst erfüllt ist.

Die Staatsrechtlerin Andrea Edenharter von der Fernuniversität Hagen hält die derzeit verhängten Kontaktverbote und Ausgangsbeschränkungen für verfassungswidrig. Als Beispiel führt sie die bayerische Regelung an, der zufolge man nur mit einer Person aus dem eigenen Haushalt ins Freie darf. Für eine Witwe, die allein in einer kleinen Wohnung lebe und keine Familie habe, bedeute die Anordnung eine „Art Isolationshaft“. Soziale Vereinsamung und erhöhte Selbstmordgefahr seien die Folgen. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, warnte vor weitergehenden Maßnahmen. Die Notmaßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung rechtfertigten nicht „die Aufgabe der Freiheitsrechte zugunsten eines Obrigkeits- und Überwachungsstaates“. Die aktuellen Ausgangsbeschränkungen seien aus seiner Sicht aber noch verfassungsgemäß.

Ungeachtet dieser Einschränkungen betont Bundesgesundheitsminister Jens Spahn unbeirrt: „Wir müssen uns die Frage der Verhältnismäßigkeit immer wieder neu stellen“. An der Absicht, Kontakte zur Eindämmung der Pandemie auch digital nachzuverfolgen (Handy-Tracking), will der CDU-Politiker festhalten. Der Koalitionspartner SPD bestehe ob des „tiefen Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte“ auf Freiwilligkeit, stellte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht klar.