© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

„Wir haben Santiago rechtzeitig verlassen“
Chile: Wie die Corona-Epidemie die sozialen Spannungen in dem südamerikanischen Land verschärft
Jörg Sobolewski

Am 18. März war es wieder soweit, Soldaten der chilenischen Streitkräfte rückten zum Einsatz auf den Straßen und Plätzen des Landes aus. 

Für die Einwohner der Hauptstadt Santiago ein Déjà-vue. Vor wenigen Monaten noch tobte in Chile eine beispiellose Protestwelle, getragen von einer generellen Unzufriedenheit, in deren Windschatten sozialistische Gewalttäter U-Bahn Stationen anzündeten und gemeinsam mit gewöhnlichen Kriminellen Geschäfte plünderten. Auch damals wurde der Ausnahmezustand verhängt, und auch damals mußte das viel gescholtene Militär für Ruhe und Ordnung sorgen. 

Idealisten kümmern sich um Landbevölkerung 

Doch diesmal werden die Männer und Frauen in Uniform weder beklatscht noch ausgepfiffen. Denn der Feind, der ist diesmal unsichtbar, aber nicht zu leugnen. Die globale Corona-Pandemie hat das Land fest im Griff. Neben Brasilien und Ecuador hat kaum ein Land derart hohe Fallzahlen zu beklagen wie Chile. Was sicherlich auch daran liegt, daß in Bolivien etwa kaum getestet wird. 

Dennoch ist die Belastung des öffentlichen Gesundheitssystems bereits jetzt enorm. Verschärft wird diese Krise durch den schlanken Staat, auf den man zumindest in Teilen der chilenischen Gesellschaft stets stolz war. Anders als Argentinien oder Ecuador folgte Chile in der Vergangenheit eher dem US-amerikanischen Modell. Krankenversicherung und Krankenversorgung sind, abgesehen von einer gewissen Grundabdeckung, Privatsache. Das hat zu einer verhältnismäßig niedrigen Zahl an öffentlich verfügbaren Kapazitäten für Patienten geführt, die intensive Pflege brauchen, aber nicht kostspielig versichert sind. Besonders in ärmeren oder abgelegenen Stadtteilen und Dörfern wird die medizinische Grundversorgung von kaum entlohnten oder ehrenamtlich arbeitenden Ärzten abgedeckt. Von Idealisten, die sich in der Pflicht sehen, für ihr Land dort einzustehen, wo die Menschen am wenigsten haben. 

Valentina Petermann ist eine dieser Ärztinnen. Die 30jährige versorgt in einem kleinen Dorf auf dem Land die Kinder der lokalen Bevölkerung. Viele davon sind indigener Herkunft und aus einem armen Elternhaus. „Das sind auch meine Kinder, wir sind doch alle Chilenen. Ich kann die nicht jetzt alleine lassen.“ Die Zahnärztin, die sich als „soziale Rechte“ beschreibt, sieht es als ihre Pflicht an, auch im aktuellen Notstand weiter ihre Arbeit zu erledigen. Auch unter erschwerten Bedingungen: „Wir haben kein Desinfektionsmittel, keine Masken, keine Handschuhe.“ Alles sei Mangelware und die staatlichen Kliniken die schwächsten Käufer im Land. „Die Epidemie verstärkt die sozialen Spannungen in Chile. Viele Leute, gerade auf dem Land, fühlen sich allein gelassen.“ 

Tatsächlich war einer der Auslöser für die massive Protestwelle im Herbst 2019 der mangelnde soziale Ausgleich im Land. Wohl ist die Steuerlast mit einer Einkommenssteuer in Höhe von neun Prozent eine der niedrigsten in der sogenannten westlichen Welt, aber die Kehrseite dieses Systems ist ein Staat, der es sich in den vergangenen Jahren angewöhnt hat, die Wirtschaft weitgehend unreguliert laufen zu lassen. Selbst bei der Zerschlagung von Duo- und Monopolen ist man zurückhaltend vorgegangen. Kritiker vermuten dahinter die enge Vernetzung der Oberschicht mit den politischen Entscheidungsträgern. Präsident Sebastián Piñera und seine Frau etwa gehören zu den reichsten Privatpersonen in Chile.

 Chiles Ökonomie gleicht einem teuren Sportwagen. Bereits geringe Verwerfungen in der Weltwirtschaft haben die stark vom Kupferbergbau abhängige Volkswirtschaft in der Vergangenheit stark getroffen. Die aktuelle Epidemie und die weltweite Rezession würgen den Motor nun komplett ab. Der chilenische Peso erreichte gegenüber dem US-Dollar einen neuen Tiefststand. 

Alle Appelle zur Einheit verhallen ungehört

Zum Umbau des Gesundheitssystems fehlt nun schlicht das Geld. Die Rezession trifft alle Staaten der Region, aber während Argentinien auf niedrigem Niveau Wirtschaftslage und Gesundheitssystem stabilisieren und damit eine gewisse Grundversorgung sichern konnte, unter anderem durch Beschlagnahmungen, befindet sich in Chile jeder Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge im freien Fall. In der Krise zeigt sich der argentinische Sozialstaat robuster als die liberale chilenische Volkswirtschaft. 

Doch nicht überall mangelt es. Valentina kennt auch die andere Seite des Gesundheitssystems. Die Hälfte ihrer Arbeitswoche bringt sie in einer renommierten und teuren Zahnarztpraxis in der Hauptstadt zu. Dort, so sagt sie, fehle es an nichts. Es herrsche sogar ein Überfluß an Masken und Handschuhen. In der ohnehin angespannten politischen Lage wirken solche Verteilungsunterschiede wie Brandsätze. 

Dennoch, eine gute und ruhig handelnde Führung könnte das Land auch durch diese Krise führen, doch Präsident Piñera ist seit der Protestwelle massiv angeschlagen. Er hat es geschafft, durch sein Agieren erst den Haß der größtenteils bürgerlichen Demonstranten auf sich zu ziehen und hat dann beim Aufflammen der gewalttätigen Ausschreitungen durch völlige Untätigkeit das Vertrauen seiner konservativen Basis verspielt. Er ist ein Präsident auf Abruf, ein Referendum im April über eine neue Verfassung und anschließende Neuwahlen sollte das Land befrieden, doch dies ist nun in weite Ferne gerückt. Die soziale und politische Spaltung der Gesellschaft ist fürs erste zementiert. Von Einigkeit kann keine Rede sein, alle Appelle zusammenzustehen verhallen. Auch das Militär kann die Ausgangssperre im Land nicht überall durchsetzen. Zu viel Respekt hat auch diese Institution verloren. 

Wer kann, flieht aus der Stadt aufs Land, zu Familie und Freunden. „Wir haben uns rechtzeitig aus Santiago abgesetzt“, meint Mario Marchant. Der Steuerberater und seine Freundin haben die letzten Stunden vor der Ausgangssperre genutzt und sind in den Süden auf den Bauernhof der Familie gefahren. Mittlerweile ist auch das nicht mehr ohne weiteres möglich, einzelne Regionen haben ein Verkehrsverbot verhängt. Niemand soll mehr ohne Passierschein umherfahren dürfen. Bei einem Land, das eine 4.300 Kilometer lange Nord-Süd Ausdehnung hat, kommt das einem totalen Stillstand gleich. 

Mittlerweile rückt die Pandemie auch an die deutschen Siedlungsgebiete im „kleinen Süden“ heran. Die Großstadt Temuco meldete am 22. März einige Dutzend neue Fälle. Darunter Ärzte, Veterinärmediziner und Krankenschwestern, alle arbeiteten in den öffentlichen Kliniken. „Klar stecken die sich an – und stecken dann natürlich weitere an“, meint Valentina. Es gibt ja keine Möglichkeit, sich zu schützen. Auch die Risikogruppe sei hier größer als in Europa. „Einer der jüngeren Fälle ist eine Friseurin, sie wird beatmet, ist aber erst 53 Jahre alt.“ Die junge Zahnärztin ist besorgt. „Mein persönliches Risiko ist groß. Wenn das System vollends zusammenbricht, wird niemand mehr versorgt. Egal, was er hat. Und dann gehen die Leute sicherlich wieder auf die Straße, es ist ein Alptraum.“