© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Die Autofahrer freut’s
Erdöl: Der heiße Preispoker kennt wenige Gewinner und viele Verlierer
Marc Zoellner

Diese Bilder könnten auch aus einem Endzeitfilm stammen: Wie leergefegt wirken die Straßen und Plätze der großen Metropolen dieser Welt angesichts des grassierenden Covid-19-Virus. Einsam steifen Drohnen großer Fernsehsender über den Himmel, um das post-apokalyptische Drama in sämtlichen Einzelheiten minutiös festzuhalten. Nach einer Woche des Shutdown, belegt auch der San Francisco Chronicle farbenfroh, hätten sich sogar schon erste Rudel von Kojoten ins Straßenbild der pazifischen US-Metropole eingelebt.

Ganz unterschiedlich reagieren die Menschen rund um den Globus auf diese ungewohnt neue Situation globaler Abschottung und wirtschaftlicher Auszeit. Erschreckend einhellig ist in diesen Tagen hingegen die Meinung der führenden arabischen Mitgliedsstaaten der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC): Für sie kommt die Corona-Krise einem Alptraum gleich – und das gerade im sechzigsten Jahr der Gründung dieser höchst einflußreichen Lobbyistenorganisation.

Denn in ihrem Ringen um Anteile am Weltmarkt für Rohöl haben die beteiligten Kontrahenten in den vergangenen Monaten ein hohes Maß an finanziellem wie politischem Risikokapital in die Waagschale geworfen: Allen voran der OPEC-Stimmführer Saudi-Arabien und dessen Exportkonkurrenten Rußland und die USA. In beiden Staaten stehen mit einem Verfassungsreferendum sowie einer Präsidentschaftswahl maßgebliche politische Zukunftsentscheidungen an; in der Riader Petromonarchie steht und fällt die politische Zukunft des Thronerben Mohammed bin Salman mit der Stabilität des Rohölpreises.

Rußland setzt Rivalen USA unter Druck

Doch seit Januar sinkt dieser kontinuierlich – und stürzte Anfang März im schwindelerregenden Tempo ins Bodenlose: Stand der Preis für ein Barrel (159 Liter) Rohöl der Sorte West Texas Intermediate (WTI) zu Jahresbeginn noch bei gut 65 US-Dollar, kam er die Einkäufer auf dem Weltmarkt Ende Februar nur noch 47 US-Dollar zu stehen. Vergangenen Freitag (27. März) schließlich kostete das Barrel WTI noch ganze 21 US-Dollar, rund zwei US-Dollar weniger als noch am Vortag. Ähnlich verhielt es sich mit der Rohölsorte Brent, dessen Barrelpreis im gleichen Zeitraum von 68 US-Dollar auf 24 US-Dollar zusammenbrach. An deutschen Tankstellen entlastet der Kursverfall die Endverbraucher merklich. In den wohlstandsverwöhnten Golfstaaten hingegen müssen die Bürger beim Tanken nun tiefer in die Tasche greifen. Und über ein rasches Ende des Preispokers der Großmächte debattieren Diplomaten aus Riad und Moskau derzeit noch immer zäh.

Daß der Ölpreis überhaupt abrutschen konnte, war einer ungünstigen Verknüpfung gleich mehrerer globaler Geschehnisse zu verdanken: „Verursacht durch den warmen Winter und den Ausbruch des Coronavirus“, faßt die russische Tageszeitung The Moscow Times die Umstände der heutigen Krise treffend zusammen. „Gerade letzterer führte zu einem weltweiten Rückgang im Ölverbrauch aufgrund von gestrichenen Flügen sowie der zeitweilig eingestellten industriellen Produktion in China.“ Frühzeitig hatte Riad auf diese Rezession hingewiesen und noch im Februar zur Drosselung der Ölförderung der OPEC-Staaten sowie Rußlands gedrängt.

Doch in der Krise sah Moskau einen willkommenen Anlaß, seine ungeliebten Rivalen in den USA vom Markt zu drängen, die mit preiswertem Frackingöl seit 2014 die Preisbildung des Barrel maßgeblich beeinflußten und zuletzt 2018 Rußland endgültig als Ölförderweltmeister ablösten. Für ihre Weltmarktführung hatten die US-amerikanischen Frackinginvestoren einen hohen Preis an Kreditaufnahme und Verschuldung zu zahlen. 

Auch ihre Rentabilität und Aktienkurse sind dem Wohl und Gedeih stabiler Ölpreise ausgeliefert. Stimmt die Rentabilität beim Fracking nicht – dessen Betriebskosten weit niedriger liegen als bei herkömmlichen Fördermethoden – drohen den Vereinigten Staaten gerade im Präsidentschaftswahljahr eine ganze Reihe namhafter Insolvenzen, die Donald Trump dessen zweite Amtszeit kosten könnten. Immerhin zeichnet sich allein die Öl- und Gasindustrie für ganze acht Prozent des US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) verantwortlich.

„Rußland betrachtet die US-Fracker als derzeit besonders verletzlich“, bestätigt der Energieexperte Ryan Fitzmaurice von der niederländischen Rabobank im Gespräch mit dem US-amerikanischen Nachrichtensender CNN. „Unserer Meinung nach zielt Rußland speziell auf die verschuldeten US-Frackingunternehmen.“ 

Aus eben diesem Grund sei der Kreml auch nicht auf die Offerte des saudiarabischen Könighauses eingegangen, die Produktion beider Länder einvernehmlich und zu beider Staaten Nutzen zu drosseln, sondern drohte gar mit einer Ausweitung der Produktion – einem Zug, dem Riad umgehend mit gleicher Ankündigung folgte. 

Dabei könnten sowohl Riad als auch Moskau tatsächlich von einer Minderung des Ölausstoßes profitieren: Als führende Exportnationen sind beide Länder auf einen relativ hohen Barrelpreis angewiesen. Rußland benötigt derzeit gut 45 US-Dollar, Saudi-Arabien rund 48 US-Dollar pro Barrel, um ihre Staatshaushalte zu konsolidieren, um Neuverschuldungen abzuwenden und um ihre Devisenreserven nicht zu belasten.

Dabei verfügt Rußland nicht nur über weit weniger ausländische Devisen als die konkurrierende Petromonarchie auf der Arabischen Halbinsel. Auch dem binnenfiskalischen Spielraum Moskaus sind engere Grenzen gesetzt als jenem Riads. „Mindestens sechzig Prozent der Haushaltseinnahmen stammen aus Rohölfördersteuern, aus Monopol- und Exportzöllen sowie anderen Steuern, die direkt oder indirekt dem Öl- und Gassektor zugerechnet gehören“, ergab eine vor wenigen Jahren veröffentlichte Studie des Carnegie Moscow Centers.

Kronprinz Salmans Flaggschiff kränkelt

Da Rußland überdies fast zwei Drittel seiner Verbrauchsgüter aus dem Ausland importieren und mit Devisen begleichen müsse, ergäbe sich hieraus eine Korrelation zwischen stabilen Barrelpreisen und der Stabilität des russischen BIP von fast 99 Prozent, hatte der Moskauer Ökonom Andrey Movchan im Auftrag des Instituts berechnet.

Das erste Opfer des russischen Generalangriffs auf die US-amerikanische Frackingindustrie war demnach rasch ausgemacht – und betraf Rußland selbst. Allein in den ersten drei Märzwochen brach der russische Rubel um gut ein Viertel seines Werts auf 1,3 US-Cent pro Rubel ein, was einem neuen Vierjahrestief entsprach. 

Neben dem Staatshaushalt waren von diesem Verlust insbesondere die Kleinsparer betroffen, die ihre Ersparnisse vorwiegend in heimischer Valuta horten, die entwertete Pensionskasse der russischen Rentner sowie die Anleger in russischen Wertpapieren, welche sich dem weltweiten Trend des Niedergangs im Zuge der Corona-Krise nicht entziehen konnten: Betrug der Aktienindex des russischen MOEX-Portfolios, in etwa vergleichbar mit dem deutschen DAX, Mitte Februar noch gute 3.200 Punkte, sank er bis Mitte März auf knapp über 2.100 Punkte ab, um sich erst im Anschluß kurz um 300 Punkte zu erholen. 

In einer ersten Maßnahme verkündete die russische Zentralbank die Aussetzung der eigenen Ankäufe ausländischer Devisen für mindestens dreißig Tage und erklärte ihre Bereitschaft, „ergänzende Maßnahmen einzuleiten, um die finanzielle Stabilität des Rubel zu gewährleisten.“

Und auch der zweite Verlierer in Rußlands riskantem Ölpreisspiel saß nicht in den USA, sondern am Persischen Golf: Mit dem Erdölgiganten Saudi Aramco kränkelte das Flaggschiff des jungen saudiarabischen Regenten Mohammed bin Salman schon kurz nach dessen historischen Börsengang. Umgerechnet circa 23 Milliarden Euro hatte der Kronprinz mit der bislang größten Teilprivatisierung der Geschichte in den Staatshaushalt spülen können – Saudi Aramco ist mit einem Marktwert von über zwei Billionen Euro immerhin auch das bislang wertvollste börsennotierte Unternehmen der Welt. 

Gerade die saudiarabischen Bürger hatten sich seit Mitte Dezember 2019 förmlich um einen Aktienanteil des von bin Salman höchstselbst beworbenen Unternehmens gerissen. Doch seit dem 5. März schwächelt die Aktie und brach binnen zwei Wochen um umgerechnet anderthalb Euro auf nur noch 6,70 Euro ein.

Für bin Salman war der Kurssturz eine doppelte Belastung: Zum einen finanziert Riad aus den Einnahmen Saudi Aramcos sein Prestigeprojekt Vision 2030, mit welchem bin Salman den fundamentalislamischen Gottesstaat umfassend technologisch wie industriell zu modernisieren gedenkt – diesbezüglich allerdings mit Investitionskosten von über einer halben Billion US-Dollar rechnet. Zum anderen sieht sich der junge Kronprinz noch immer internen Machtkämpfen ausgesetzt. Ein schlagartiger Vermögensverlust der breiten Masse seiner Staatsbürger durch den Einbruch des Aktienkurses seines Zugpferdes könnte ihn persönlich auch das Vertrauen der breiten Masse der saudischen Staatsbürger und somit seinen krisensicheren Herrschaftsanspruch kosten.

Doch wie die Vereinigten Staaten besitzt auch Saudi-Arabien den Vorteil einer noch immer gut gefüllten Kriegskasse. Beide können Finanzexperten zufolge auf Rücklagen von bis zu 500 Milliarden US-Dollar zugreifen; beide gelten außen- wie wirtschaftspolitisch als enge Verbündete. 

60. Geburtstag der Opec unter keinem guten Stern 

Doch jeder neue Tag im Preispoker kostet die Ölförderstaaten aller drei Lager bares Geld – und nützt am Ende einzig den Verbrauchernationen in Europa sowie der chinesischen Volkswirtschaft als Hauptimporteur. Gerade letzteres mißfällt dem Weißen Haus. „Saudi-Arabien hat jetzt die einzigartige Gelegenheit, die globalen Energie- und Finanzmärkte zu beruhigen, während die Welt sich einer ernsten wirtschaftlichen Unsicherheit gegenübersieht“, drängt das US-Außenministerium von daher Riad zum Einlenken im Ölstreit. 

Am 14. September feiern die dreizehn Mitgliedsstaaten der 1960 in Bagdad gegründeten OPEC ihren 60. Jahrestag. Eine Eskalation des saudi-arabisch-russischen Konflikts dürfte die Festlaune jedoch dramatisch trüben. Nicht nur aufgrund der Befürchtung, die Corona-Krise könne ganze Verbrauchermärkte auf Dauer schwächen. Sondern ebenso, weil speziell die kleineren Mitgliedsstaaten der OPEC noch immer weder Methoden noch Finanzen haben finden können, um ihre Binnenwirtschaften unabhängiger vom Rohölexport sowie den damit verbundenen Preisschwankungen auf dem Weltmarkt zu gestalten.