© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Kunstschätze am heimischen Compter betrachten
Google Arts & Culture: Virtuelle Spaziergänge durch viele Museen der Welt
Paul Leonhard

Im Graben rund um den Tempel von Dendur glitzert es. Besucher haben Münzen in das Wasser geworfen. Sie kommen aus aller Herren Länder, um das mehr als 2.000 Jahre alte Bauwerk zu bewundern und all die Skulpturen, Tafeln, Sarkophage. Dendur war ein Ort in Unternubien, 75 Kilometer südlich von Assuan am westlichen Ufer des Nils gelegen. Heute ist er im Nassersee verschwunden. Zuvor schenkte die ägyptische Regierung den kleinen Tempel den Amerikanern. Die bauten ihn ab und 1978 im Metropolitan Museum oft Arts (Met) in New York wieder auf, dem größten Kunstmuseum der USA: mehr als drei Millionen Werke im Bestand, über 130.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche.

Dank der Plattform „Arts & Culture“ des US-Softwareunternehmens Google stehe ich – trotz internationalen Reiseverbots – mitten im Met – und bin enttäuscht. Nicht, weil ich in dem mit rund sieben Millionen Besuchern im Jahr am dritthäufigsten besuchten Kunstmuseum der Welt alleine stehe, was eher angenehm ist, sondern weil ich mich nicht zurechtfinde. Die Schrift auf den erklärenden Schildern neben den Ausstellungsobjekten ist viel zu klein. Es es ist auch kein Reiter eingeblendet, der mir Hinweise auf dem Weg durch das Museum gibt.

Rundgang durch die Uffizien in Florenz 

Hilflos drehe ich mich im Kreis, suche den Ausgang. Schließlich klicke ich auf die entsprechende Taste. Nur raus hier. Ich weiß, das Met birgt europäische Malerei von Rang, italienische, spanische, flämische, niederländische, britische und französische Malerei aus acht Jahrhunderten, darunter Künstler wie Botticelli, Tizian, Raffael, Rubens, Dürer, Jan van Eyck, Pieter Bruegel der Ältere, Rembrandt, Frans Hals, Vermeer, Monet, van Gogh. Aber ich will raus aus diesem Haus, zurück nach Europa und hinein in die Alte Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin. Hier führt eine mit einem roten Teppich ausgelegte breite Treppe in den ersten Stock. Ich kann sie zwar nicht betreten, bekomme aber eingeblendet, wer die Person ist, die mich da von oben mustert: „Der Sänger Francisco d‘Andrade als Don Giovanni in Mozarts Oper“, gemalt von Max Slevogt.

Ich probiere es noch einmal, nach oben zu kommen, aber der Pfeil weist unmißverständlich nach rechts. Das ist die Krux an dieser Art, Museen zu besuchen. Der Besucher ist abhängig von der Arbeit, die der Fotoroboter Gigapan geleistet hat. Rund 1.200 Museen soll Gigapan aufgesucht haben, damit Kunstinteressierte ihre zusammengetragenen Schätze vom heimischen Computer aus im dynamischen 3D-Modus bei einem Rundgang bewundern können. Der Fotoroboter hatte es seinerzeit eilig, lediglich zwei Nächte hatte er pro Museum zur Verfügung, um die Objekte und Räumlichkeiten aufzunehmen, was man dem Ergebnis anmerkt: Die Auflösung läßt teilweise zu wünschen übrig, und es sind für den digitalen Besucher nur eine Handvoll Objekte beschriftet und die nicht immer fehlerfrei.

Das Museé des Beaux-Arts de Lyon lockt mich beispielsweise mit dem Porträt einer sächsischen Adligen von Lucas Cranach zum Eintritt, aber dann drehe ich mich erneut enttäuscht im Kreis: Statt der versprochenen „Saxon Noblewoman“ sehe ich nur finster blickende Herren und mit Schwertern ausgestattete Heilige. Um den hübschen Hintern von „Odalisque“, einer Skulptur von James Pradier, zu bewundern, muß ich dagegen tief in den Raum schreiten.

Ein Genuß ist der virtuelle Spaziergang durch die Kunstsammlung Galleria degli Uffizi (Uffizien) in Florenz mit Werken der Malerei und Bildhauerei von der Antike bis zum Spätbarock. Dank der Reiter kann ich zu Sandro Botticellis „Die Geburt der Venus“ klicken, zu da Vincis „Die Verkündigung“ und Michelangelos „Tondo Doni“. Das Martin-Luther-Porträt von Lucas Cranach dem Älteren finde ich selbst, auch Raffaels Selbstporträt.

Als ich jedoch zu nahe an das Doppelbildnis des Herzogspaares von Urbino trete, es zählt zu den berühmtesten Porträts der abendländischen Kunstgeschichte, werde ich einfach in den nächsten Ausstellungsraum katapultiert. Ich versuche es erneut, denn ich will auch die Rückseite des Porträts von Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino, und seiner Frau Battista Sforza sehen. Diesmal nähere ich mich vorsichtig, tippe das Kreuz neben dem Kunstwerk an, dann das nächste, klicke die Taste, die mich eine Drehung machen läßt, rücke das Computerbild zurecht und sehe jetzt den Triumphzug des Herzogs und der Herzogin.

Die Tretjakow-Galerie in Moskau ist vorbildlich

Das Archäologische Nationalmuseum Neapel, das eine der bedeutendsten archäologischen Sammlungen der Welt birgt, bietet gleich sieben Museumsansichten an. Aber es sind keine Rundgänge, sondern lediglich ein 360-Grad- Rundblick. Genauso hält es die Galleria Nazionale d’Arte Moderna in Rom, mit 5.000 Gemälden und Skulpturen die größte Sammlung von Werken italienischer Maler des 19. und 20. Jahrhunderts.

Völlig unbekannt war mir bisher der 2008 erschienene Roman „Museum der Unschuld“ (Masumiyet Müzesi) des türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk, der eine Liebesgeschichte beschreibt, die zur Entstehung eines Museums führt. Und seit 2012 gibt es in Istanbul dieses Museum tatsächlich. Das Eckhaus Çukurcuma (sprich: Tschukúrdschumaa) ist schon beim Internetbesuch in seiner kleinteiligen Vielfalt faszinierend und dürfte bei einem „richtigen“ Besuch noch beeindruckender sein.

Zwischen Kurzbesuchen in der Auckland Art Gallery (M?ori: Toi o Tamaki), der mit mehr als 15.000 Werken größten Kunstgalerie Neuseelands, und der Nationalgalerie London lenkt mich ein weiteres Angebot der Seite „Arts & Culture“ ab: 3D-Modelle berühmter Bauwerke. Ich schaue mir interessiert das Brandenburger Tor von allen Seiten an, lasse es durch den Raum schweben, ebenso das Thomas-Jefferson-Memorial. Dann widerstehe ich tapfer der Versuchung, mir all die in den Museen der Welt befindlichen Montes zu zeigen und scrolle mich wieder durch die schier endlose Reihe von Sammlungen, die Foto-roboter Gigapan aufbereitet hat.

Nicht alle bieten Rundgänge an, mitunter kann man sich nur ausgewählte Werke ansehen und meist auch vergrößern. Durch das Art Museum of the Americas in Washington, D.C., kann spaziert werden, aber es gibt keinerlei Informationen über die ausgestellten Werke der zeitgenössischen Kunst aus Lateinamerika und der Karibik, die bei der Einordnung helfen würden. Erneut gebe ich dem Met eine Chance, aber auch der Besuch in der Waffensammlung überzeugt nicht. Ich starre auf den Harnisch von George Clifford, dritter Earl of Cumberland. Enttäuschend sind ebenso die Auftritte der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden – es gibt keine Rundgänge, die Sixtinische Madonna ist nicht zu bestaunen – und des Museum of Modern Art (MoMa) New York.

Lehrreich ist der Bummel durch das Rijksmuseum Amsterdam mit seiner großen Sammlung holländischer Malerei und asiatischer Kunstobjekte. Vorbildlich auch die Staatliche Tretjakow-Galerie in Moskau, mit rund 140.000 Werken der Malerei, der Graphik und der Bildhauerei eines der bedeutenden Museen Rußlands. Die Werke von Ilja Repin, Kandinsky und Iwan Kramskoy sowie zahlreiche Ikonen werben nachdrücklich für einen zeitnahen Besuch der russischen Hauptstadt. Und von da aus könnte es zukünftig nach St. Petersburg gehen. Nicht nur in die Eremitage, sondern vor allem auch in das Museum für zeitgenössische Kunst Erarta, dem – so die Eigenwerbung – größten globalen Projekt in der russischen zeitgenössischen Kunst, die einen Einblick in das moderne Rußland gibt.

„Arts & Culture“ bietet auch eine Weltkarte, auf der alle berücksichtigten Museen eingetragen sind, und ein alphabetisches Verzeichnis. Der Besucher kann sich die Ausstellungen sortieren lassen, so beispielsweise nach Dinosaurierskeletten oder bestimmten Malern oder Malschulen, Epochen, historischen Ereignissen oder Orten. Auch virtuelle Stadtrundgänge sind möglich. Trotzdem sind die virtuellen Besuche bestenfalls Anregungen für tatsächliche Reisen.

Wenn die Welt wieder in den Fugen ist, muß ich jedenfalls unbedingt nach Mexiko-Stadt: das Museo Dolores Olmedo und das als Blaues Haus bekannte Frida-Kahlo-Museum (im Internet bietet es vier Rundgänge) sowie das Cuatro Caminos Photo Museum mit seinen inspirierenden raumhohen Fotoarbeiten besuchen. Auch das Egon-Schiele-Art-Centrum (ESAC) in ?eský Krumlov (Krumlau) habe ich mir notiert. Es ist dem österreichischen Maler Egon Schiele (1890–1918) gewidmet. Aber auch innerhalb Deutschlands gibt es Entdeckungen wie das Deutsche Hutmuseum Lindenberg mit Hutgeschichte zum Anfassen oder Aufsetzen. Oder wußten Sie, daß in dem Ort im Allgäu um 1900 mehr als vier Millionen Strohhüte produziert wurden und einst die ganze Welt Hüte aus Lindenberg trug?

Virtueller Rundgang durch Museen und Ausstellungen,  https://artsandculture.google.com