© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Als am Pregel das Licht ausgeht
Vom Einbruch der „Steppenkinder“ in Kants Stadt der reinen Vernunft: Am 9. April 1945 erobert die Rote Armee die „Festung Königsberg“ in Ostpreußen
Oliver Busch

Die Geschichte der „Festung Königsberg“ ist schnell erzählt. Am 27. Januar 1945 stand die Rote Armee vor den Toren der ostpreußischen Provinzhauptstadt. Mit ihren überlegenen Kräften hätte sie die schwach befestigte Metropole im Handstreich einnehmen können. Stattdessen begnügte sie sich mit Einschließung und Belagerung, mit eher beiläufigen Bombardements und Tieffliegerattacken, mit wenig energischen Stoßtrupp-Vorstößen gegen Stellungen des äußeren Befestigungsgürtels.

Und sie wich am 19. Februar sogar vor einem wuchtigen Entlastungsangriff der Verteidiger zurück, der ihnen ein Schlupfloch nach Westen, hin zur Hafenstadt Pillau, öffnete. Ein Coup, der aber bei niemandem Illusionen über den Ausgang des ungleichen Kampfes weckte und der nicht einmal genügte, um mehr als einen Bruchteil der in der östlichsten deutschen Großstadt verbliebenen Zivilbevölkerung, 100.000 von 380.000 (1941) Menschen, heraus zu den rettenden Schiffen nach Pillau zu schleusen.

Der Kapitulation folgte das Morden der Soldateska

Dieses neunwöchige Katz-und-Maus-Spiel endete kurz nach Ostern, frühmorgens am Freitag, dem 6. April, als die Sowjets mit dreißig Divisionen und zwei Luftflotten zum finalen Schlag ausholten. Pausenlos, so erinnerte sich der General Otto Lasch, der erst 1955 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Festungskommandant, sei das brennende und in Trümmern liegende Königsberg aus Tausenden Rohren aller Kaliber und Stalinorgeln mit Granaten und Raketen überschüttet worden. „Soldaten und Zivilisten wurden durch den Hagel der Geschosse auf engstem Raum in den Kellern der Häuser zusammengepfercht.“ Am Nachmittag des 9. April standen Rotarmisten vor Laschs Gefechtsstand, einem Bunker unter dem Paradeplatz, unweit der Ruine des Hauptgebäudes der Albertus-Universität. Die Kapitulation zu ehrenvollen, selbstverständlich nicht eingehaltenen Bedingungen war dann lediglich eine Formsache.

Was folgte, war das im Frühling 1945 in Ostdeutschland übliche Grauen. Die enthemmt mordende, vergewaltigende, plündernde Sowjetsoldateska gab sich wochenlang redlich Mühe, das von der NS-Propaganda in grellen Farben gemalte Schreckbild vom „bolschewistischen Untermenschen“ zu bestätigen und sogar um einige bis zu ihren Königsberger Exzessen noch ungeahnte Facetten der Bestialität zu bereichern.

Der Hygieniker und Bakteriologe Hans Schuberth, bis zum 9. April Chef des Medizinischen Untersuchungsamts der Festung, dann unter sowjetischer Verwaltung bis 1948 die Innere Abteilung des Königsberger Zentralkrankenhauses leitend, hat als einer der ersten Zeugen über zahllose gräßliche Details dieser Leidenszeit berichtet. Sein Protokoll „Ich sah Königsberg sterben“ (1948 unter dem Pseudonym Hans Deichelmann publiziert), formte zusammen mit dem in hoher Auflage verbreiteten  „Ostpreußischen Tagebuch“ (1961) des Medizinerkollegen Hans Graf Lehndorff, mit den Erinnerungen von Louis Clappier, Günther Braunschweig, Otto Lasch, Lucy Falk, Elfriede Kalusche, Anneliese Kreutz, mit Michael Wiecks „Zeugnis vom Untergang Königsbergs“ (1989), die im kollektiven Gedächtnis der alten Bundesrepublik entstandene Vorstellung von apokalyptischen Zuständen, wie sie in deutschen Landen zuletzt im Dreißigjährigen Krieg herrschten. 

In den 1990ern, im Umfeld des unsäglichen Gezerres um das Denkmal gegen Vertreibung und der Reemtsma-Schau zu den „Verbrechen der Wehrmacht“, verlor diese Deutung des „Roten Sturms auf das Reich“ (Christopher Duffy, 1991) und des Kriegsendes in den preußisch-deutschen Ostprovinzen an öffentlichem Verständnis und Zuspruch. Stattdessen etablierte sich gemäß der postnationalen, ergo postfaktischen Parole „Deutsche Täter sind keine Opfer“ ein Geschichtsbild, das ignorierte, daß das Moralische für Historiker eine unergiebige Kategorie ist.

Militärischer Widerstand sei „sinnlos“ gewesen

Soweit das Thema „Festung Königsberg“ in diesem Kontext zur Wiedervorlage kam, lag nunmehr der Hauptakzent der Bewertung auf dem Vorwurf der als „verbrecherisch“ klassifizierten „Sinnlosigkeit“ des militärischen Widerstands. „Festungen“ wie Königsberg oder Breslau, dessen Verteidiger sogar erst nach dem Fall der Reichshauptstadt Berlin am 6. Mai 1945 die Fahne strichen, hätten die sichere Niederlage der Wehrmacht und den selbstverschuldeten Untergang des Deutschen Reiches nicht einmal verzögern, geschweige denn aufhalten können. Ein verantwortungsvollerer General als Otto Lasch, so argumentierte schon der nicht zur Verharmlosung der ihren „Sex-, Macht-, Besitz-, Freß-, Sauf- oder Mordtrieb“ in seiner Heimatstadt auslebenden sowjetischen „Steppenkinder“ neigende Michael Wieck, wäre daher verpflichtet gewesen, Königsberg spätestens vor Beginn der Großoffensive am 6. April zu übergeben. Auch deshalb, weil gerade der „sinnlose Verteidigungskampf“ der letzten Tage die Russen erbittert und zu rächenden Gewalttaten an Zivilisten provozierte habe. Bei zeitiger Kapitulation hingegen wären die Eroberer zu humanen „Zugeständnissen“ bereit gewesen.

Ähnlich naiv, aber typisch für die geschichtsblinde Ära der Massen-Amnesie, die nationale Selbstbestimmung und Selbstbehauptung als Überbleibsel aus der Vormoderne zu kriminalisieren liebt, urteilt der früh verstorbene Oldenburger Historiker Erhard Lucas-Busemann (1937–1993) in einer posthum erschienenen Vergleichsstudie („So fielen Königsberg und Breslau“, 1994). Der sozialistisch orientierte Autor, als Kind in letzter Minute aus Arnswalde in der Neumark geflüchtet, steht zwar nicht an, der Wehrmacht dafür dankbar zu sein, daß sie in „militärisch aussichtloser Lage weiterkämpfte“ und es ihm und seiner Familie (mindestens) ersparte, „von den russischen Siegern terrorisiert zu werden“. Er teilt auch nicht die linke, heute zur herrschenden Meinung verkarstete Standardapologie, die jedem Völkerrecht Hohn sprechende sowjetische Behandlung der ostdeutschen Bevölkerung sei „einfach die Reaktion auf die brutale Kriegführung der Deutschen in Rußland“ gewesen. 

Trotzdem belastet er Generale wie Otto Lasch mit einer Mitschuld an den Opfern von Flucht und Vertreibung. Hätte die Ostfront rechtzeitig kapituliert, idealerweise nach dem Attentat vom 20. Juli 1944, hätte sich die seit Jalta unabwendbare Vertreibung nicht unter der Furie des Krieges, sondern, wie es in grotesker Fehleinschätzung Stalins heißt, weniger verlustreich unter den Bedingungen einer militärischen Okkupation vollzogen.