© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Gefangen als Stubenhocker
Corona-Krise: Daheimgebliebene streamen gegen die Langeweile / Das Angebot ist groß
Gil Barkei

Deutschland bleibt zu Hause. Das Coronavirus und die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung haben die Bürger in ihren vier Wänden festgesetzt. Den Strom, der sonst zäh durch volle Straßen, U-Bahnhöfe und Fußgängerzonen floß, ersetzt nun der digitale Strom durch die Video-auf-Abruf-Dienste. Nachrichtenseiten und Internetportale überbieten sich mit Empfehlungslisten und Top-10-Sammlungen von Netflixserien, die „man gesehen haben muß“. In sozialen Netzwerken erbitten Eltern angesichts des kaum mehr gewohnten Kontakts zum Nachwuchs Tips für kindergerechte Filme und geraten ins Staunen, was so mancher Facebook-Freund darunter versteht. 

„Das Lagerfeuer brennt wieder“ titelt die Augsburger Allgemeine: „Corona-Zeit ist Fernsehzeit“. Bei vielen dürften wirklich nostalgische Erinnerungen an Familienabende auf dem Sofa vor „Wetten, daß...?“ hochkommen. In der Tat wuchs in den vergangenen Wochen laut „Arbeitsgemeinschaft Videoforschung“ auch die Reichweite des linearen Fernsehens um vier Prozent und die Sehdauer um fünf Prozent.

In Zeiten von Ausgangssperren und Veranstaltungsabsagen ist die oftmals verspottete Flimmerkiste, solange sie als Computerbildschirm oder Smart-TV über einen Internetanschluß verfügt, aber auch eine Möglichkeit am kulturellen Leben teilzuhaben und den Wegfall des Schulunterrichts zu kompensieren. Zusammen mit dem Bayerischen Rundfunk hat das bayerische Kultusministerium zum Beispiel sein Angebot erweitert und stellt in der BR-Mediathek Lernvideos für die „Schule daheim“ zur Verfügung. Deheimgebliebene haben zudem Onlinekurse für Fremdsprachen, Aktienhandel oder die eine oder andere Heimwerkeraktion für sich entdeckt. Ein Bekannter berichtet, er bringe sich jetzt per Webinar selbst Video- und Audioschnitt bei. Ein anderer versucht sich im gezielten Gedächtnistraining.

In Berlin startete das Portal berlin­alive.de, auf dem Künstler, Schauspieler und Musiker (Live-)Streams aus ihren Ateliers, Studios und Bühnenkulissen eintragen können. Unter dem Motto „Stay safe. Stay tuned. Show solidarity“ können Zuschauer eine kleine Spende hinterlassen. Um die für die Tourismusbranche wichtige Party-Szene der Hauptstadt am Leben zu erhalten, bieten bekannte Berliner Clubs in Kooperation mit Arte Concert ihre DJ-Line-Ups als Live-Stream auf Youtube an. Regelmäßig verfolgen Zehntausende Zuschauer das Projekt „United we stream“ oder laden über Facebook Watch zu einer digitalen Tanzsession ein. Liebhaber klassischer Klänge müssen ihren Spielplan ebenfalls nicht entnervt in den Papierkorb schmeißen. Zahlreiche Opern-, Theater- und Konzerthäuser wie die Bayerische Staatsoper verlegen ihre Darbietungen als Aufzeichnung vor leeren Zuschauersitzen kurzerhand ins Internet. Aber auch Sportler, die aufgrund geschlossener Fitneßstudios zu Stubenhockern zwangsmutiert sind, sollen auf ihre Kosten kommen. Stars der Szene wie Pamela Reif, aber auch Musiker wie Kontra K oder Influencer wie Caro Daur preisen Workout-Clips für zu Hause an. Und auch die Öffentlich-Rechtlichen wollen ihre Zuschauer in Bewegung setzen. So bietet rbb24.de täglich um 9.30 Uhr und 14 Uhr ein Online-Programm „vom Kindertanz übers Power-Training bis zum Yoga“ an. Wen danach der Hunger packt, der findet massenhaft Alleine-zu-Hause-Rezepte und Kochsendungen mit Spezialmenüs zum Konserven-Gaumenschmaus in Quarantäne. 

Bei soviel Angebot ist die Nachfrage auf den Streaming- und Video-Plattformen groß, zu groß. Auf Bitten des französischen EU-Kommissars Thierry Breton haben Netflix, Amazon, Facebook, Youtube und das gerade erst gestartete Disney+ (JF 48/19) ihre Bildqualität in Europa gesenkt, um die Netze nicht zu überlasten – gerade mit Blick auf die zunehmenden Datenmengen, die zwischen den Heimbüros und Video-Telefonkonferenzen (TelKo) hin und her gesendet werden.

Steigen die Scheidungen oder die Geburten?

Home-Office, Home-Schooling, Home-Gym, Home-Cooking: das Zuhause, das traute Heim und damit hoffentlich auch die Heimat erleben angesichts der Entschleunigung ein Revival. Fällt uns – den sonst oftmals so gehetzten – dabei irgendwann die Decke auf den Kopf? Nehmen womöglich sogar die Scheidungen zu? Oder erleben wir in neun Monate einen Babyboom? Vielleicht macht die „Not“ ja wieder erfinderisch und Deutschland steht eine neue Gründerzeit bevor, mit einer Welle an jetzt noch völlig ungeahnten Startups. Hilft die Minimierung der sozialen Kontakte, die wirklich wichtigen herauszufiltern oder führt sie geradewegs in eine asoziale Gesellschaft isolierter Klopapierlageristen? Überspitzt formuliert: Entweder wir kommen als durchtrainierte, in unzähligen „Do it yourself“-Streams fortgebildete Starköche aus der Corona-Krise. Oder es bleiben – nicht zuletzt wegen geschlossener Frisöre – verwahrloste, angefettete Serienjunkies und Sauf-TelKo-Alkoholiker übrig. Wie so oft liegt vieles an jedem einzelnen selbst.