© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/20 / 03. April 2020

Der Flaneur
„Und weiter?“
Paul Leonhard

Daß mir der Typ an der S-Bahn-Station sofort ins Auge sticht, liegt an seinem knallgelben Rucksack, auf dem groß das Wappen des örtlichen Fußballvereins prangt.

Dann fällt neben dem Typen eine Zellophanverpackung zu Boden. Ein Windhauch greift sie auf, weht sie ein paar Meter weiter. Sie stammt von einer Zigarettenpackung, die gerade geöffnet wurde. Es folgen im Abstand von jeweils zehn Sekunden weitere Zellophanstreifen und ein Stück Papiertaschentuch. 

Hatte ich noch geglaubt, das erste Stück sei unbeabsichtlich auf den Boden geglitten, stelle ich fest, daß es Absicht ist. Geradezu angeekelt trennt der Typ sich von der zerflückten Zigarettenschachtelverpackung.

Irgendwie ärgert mich das. Ich schaue mir genauer an, wer da in der mit Farbflecken beklecksten roten Hose und in dem schwarzen Sweatshirt steckt. Als ich ein paar Schritte auf den Mann zugehe, dreht er sich um. Unter der Kapuze das schmale Gesicht eines 16- oder 17jährigen. 

Und tatsächlich: Der Jugendliche bückt sich und sammelt die Schnipsel auf.

Er solle das Zeug aufheben, sage ich in ruhigem Ton. Dort sei der Papierkorb. Verschlafene braune Augen mustern mich. „Und weiter“, nuschelt er, während die Lippen die Zigarette festhalten. „Ich kann auch die Bundespolizei anrufen“, entgegne ich. Er wiederholt seinen Satz, jetzt als Frage: „Und weiter?“ Ich zucke mit den Schultern und trete einen Schritt zurück. Schaue ihn noch einmal fragend mit ernster Miene an und krame das Handy aus meiner Bomberjacke.

Jetzt geschieht das Unglaubliche: Ich gewinne das Pokerspiel. Der Jugendliche bückt sich tatsächlich dreimal nach dem herumflatternden Zellophan und wirft es in den Papierkorb. 

Ich verkneife mir ein „Na siehste“ und wenig später auch, eine junge Frau mit Rastazöpfen dahingehend zu belehren, daß ihre Schnürstiefel nichts auf den Sitzen der S-Bahn zu suchen haben. Eine gute Tat am Tag reicht.