© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Das Notstandsregime
Recht: Corona-Bundesgesetz und Gesetzentwurf in NRW sind verfassungswidrig
Ulrich Vosgerau

Der Bundestag hat am 25. März ein Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes erlassen; am 1. April diskutierte der nordrhein-westfälische Landtag ein „Gesetz zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie“, das am Montag Gegenstand einer Sachverständigenanhörung war. Beide Gesetze sind echte Notstandsgesetze, die also darauf ausgehen, die prägende Rolle der Parlamente bei der Gesetzgebung problemspezifisch zu beseitigen und zahlreiche Grundrechte zum Schutze höherrangiger Rechtsgüter zu suspendieren. Das verfassungsrechtliche Kernproblem daran: Ein solcher Notstand ist im Grundgesetz, dessen Grundsätze und Grundrechte auch für das Land NRW entsprechend bzw. unmittelbar gelten (Art. 28 Grundgesetz; Art. 4 Landesverfassung), nicht vorgesehen.

Die „Notstandsgesetze“, an denen sich der Protest der „68er“ einst entzündete, gelten nur für den Verteidigungsfall (Art. 115a ff. Grundgesetz). Den haben wir aber nicht; sondern allenfalls eine „Naturkatastrophe“ (Art. 35 Grundgesetz), die den Einsatz der Bundeswehr im Innern rechtfertigen würde, aber nicht die Aussetzung von Grundrechten oder die Ausschaltung des Gewaltenteilungsgrundsatzes infolge der Selbstabdankung der Parlamente zugunsten des Gesundheitsministers. Durch diese Gesetze wird, gestützt auf eine Generalklausel, das heißt eigentlich eine Auffangnorm des besonderen Verwaltungsrechts (Paragraph 28 Infektionsschutzgesetz), ein allgemeines Notstandsregime mit geschichtlich beispiellosen Einschränkungen aufgerichtet. Die Heranziehung des Polizei- und Ordnungsrechts steht aber unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. 

Bereits auf Bundesebene fällt auf, daß eine Prüfung der „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“ der ins Werk gesetzten Maßnahmen im Zuge der „Alleinherrschaft der Virologen“ offenbar nicht stattgefunden hat. Diese ist das eigentliche Herzstück der Grundrechtsprüfung; dabei werden staatliche Maßnahmen in allen ihren Einzelheiten daraufhin abgeklopft, ob es nicht ein milderes Mittel geben könnte. So wird niemand bestreiten, daß infizierte Personen sowie Einreisende aus besonderen Risikogebieten befristet interniert werden dürfen. Auch die mit einigen Härten verbundene Abschottung von Alten- und Pflegeheimen wird als Ausdruck staatlicher Schutzpflichten für Leben und Gesundheit besonders gefährdeter Gruppen akzeptabel sein.

Aber dürfen auch millionenfach Personen, bei denen keinerlei Anfangsverdacht einer Infektion besteht, geraume Zeit mit Kontakt-, Aufenthalts- und Berufsverboten belegt werden? Dabei geht es eben nicht (nur) darum, „Menschenleben gegen die Belange der Wirtschaft“ abzuwägen. Denn wir riskieren einen weitgehenden Zusammenbruch der gewerblichen Wirtschaft, deren monatliche Umsatzsteuervorauszahlungen das „Benzin“ sind, das den heutigen Sozialstaat erst am Laufen hält. Ohne Umsätze in der Wirtschaft könnte auch der Staat zur Rettung von Menschenleben mittelfristig leider wenig beitragen!

Das Bundesgesetz bzw. der Gesetzentwurf in NRW sind in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig. Beide kranken daran, daß eine Befristung, sei es des Notstandsregimes überhaupt, sei es der unter ihm ergangenen Rechtsverordnungen und Anordnungen, nicht vorgesehen ist; der Notstand dauert so lange, bis das Parlament ihn für beendet erklärt, für die Einzelmaßnahmen ist gar kein Auslaufen vorgesehen. Dies widerspricht dem Gewaltenteilungsgrundsatz.

Das Parlament entmachtet sich selbst als Gesetzgeber zugunsten des Gesundheitsministers; der Gewaltenteilungsgrundsatz steht als übergeordnetes Verfassungsprinzip jedoch nicht unter dem Vorbehalt, daß die Landtagsmehrheit Gewaltenteilung gerade für opportun hält. Auch sind Rechte des Landtages immer auch Rechte der Opposition und niemals nur Rechte der Landtagsmehrheit (die den Notstand beenden könnte). Daher ist es unabdingbar, daß das Notstandsregime auf Bundes- wie auf Landesebene von Anfang an zeitlich befristet wird, zum Beispiel auf drei Monate, was derzeit nicht der Fall ist. 

Weiterhin müssen Rechtsverordnungen und „besondere Anordnungen“ des Gesundheitsministers, die im Notstand ergehen, dem Parlament oder wenigstens dem zuständigen Ausschuß vorgelegt werden und auf deren Verlangen jedenfalls nachträglich wieder aufgehoben werden. So soll der Gesundheitsminister in NRW künftig „besondere Anordnungen“ treffen können, die den eigentlich geltenden Gesetzen widersprechen. Dies hat dann aber nicht die Folge, daß die Anordnungen rechtswidrig sind, sondern sie sollen eben den Gesetzen vorgehen. Dies ginge, auch wenn es zeitlich befristet würde, nicht ohne Interventionsmöglichkeit des Landtages.

Auf Bundesebene kommt noch hinzu, daß im Hinblick auf diverse Maßnahmen der Bundesgesundheitsminister selbst zu ihrer Durchführung ermächtigt wird. Schon der praktische Sinn dieser Ermächtigung bleibt unklar, verfügt er doch über keinerlei eigene Vollzugsorgane. Verfassungsrechtlich gilt: die Ausführung des Bundesrechts ist Sache der Länder (Art. 83 Grundgesetz); Ausnahmen hiervon müßten im Grundgesetz selber vorgesehen sein, nicht bloß in schnellfertigen Notstandsregularien. Gänzlich verfassungswidrig ist auch die durch das NRW-Gesetz eingeführte Möglichkeit der Zwangsverpflichtung medizinischen und pflegerischen Personals; da es sich bei dieser selektiven Verpflichtbarkeit nicht um eine „herkömmliche allgemeine, für alle gleiche“ Dienstplicht handeln würde, widerspricht sie der Berufsfreiheit.






Dr. habil. Ulrich Vosgerau lehrte Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht sowie Rechtsphilosophie an mehreren Universitäten. Er nahm am Montag als Sachverständiger an der Anhörung im Düsseldorfer Landtag teil.