© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Auf den Fluren laß die Winde los
Werner Becker

Ein einsamer Zettel in einem leeren Flur eines verwaisten Gebäudes: „Sollten Sie Corona-Symptome zeigen, betreten Sie bitte nicht die Praxisräume!“ So steht es an der Eingangstür von Zimmer EN 031 im Nordflügel des Reichstags. Hier sitzt die Amtsärztin des Bundestags, zuständig für Abgeordnete und deren Mitarbeiter. So leer wie der Bundestag ist allerdings auch das Wartezimmer. Es ist niemand da, nicht mal die Medizinerin oder ihre drei Assistenten sind vor Ort. Wirklich schlimm ist das jedoch nicht. Es ist kaum jemand da, der zu behandeln wäre. 

Viele Abgeordnete und Mitarbeiter sind abwesend. Vielleicht fünf bis zehn Prozent harren noch in den Gebäuden des Parlaments aus, um das Allernötigste im noch immer vom Faxgerät abhängigen Arbeitsalltag zu erledigen. Selbst der Etagendienst, erster Ansprechpartner für die Abgeordnetenbüros und im Normalfall, wie der Name verrät, auf jeder Etage mit einem eigenen Büro vertreten, ist im Home Office. Post? Wird statt dreimal nun noch einmal am Tag verteilt. Aber Briefe kommen sowieso kaum noch an, abgesehen von der einen oder anderen Veranstaltungsabsage.

Nur eine Berufsgruppe verrichtet unerschütterlich ihren Dienst: die Pförtner und das Sicherheitspersonal. Allerdings hat der Bundestag den Zutritt von Gästen schon vor Wochen immer weiter beschränkt. Jetzt kommen fast nur noch Inhaber eines Hausausweises in die verstreut liegenden Bundestagsliegenschaften. Und die werden – bis auf Journalisten oder Lobbyisten – nicht weiter kontrolliert. So wartet das Sicherheitspersonal auf Gäste, die nicht kommen. Aber Vorschrift ist nun mal Vorschrift.

Etwas mehr Betriebsamkeit herrscht noch in der Hauptkantine im Jakob-Kaiser-Haus. Wo sich sonst zur Stoßzeit sogar außerhalb der Sitzungswochen Hunderte in langen Schlangen vor der Essensausgabe oder an den Tischen drängen, ist es jetzt überschaubar geworden. Die Speiseauswahl ist stark eingeschränkt, die Tische stehen mindestens eineinhalb Meter auseinander, und an den Eingängen stehen Desinfektionsmittel. Messer und Gabel werden dem Gast aufs Tablett gelegt, um das Wühlen in den Besteckkästen zu vermeiden. „Ungeachtet des eingeschränkt aufrechterhaltenen Angebots wird empfohlen, die gastronomischen Einrichtungen nach Möglichkeit nicht zu nutzen“, schreibt das Referat ZR2 in einer Hausmitteilung. Da aber fast alle Restaurants, Kantinen und Imbisse in der Umgebung geschlossen haben, bleibt den Hungrigen nur der Gang in die Kantine.

Erholungsurlaub und Freizeitausgleich für die Bundestagsangestellten sind gestrichen oder storniert. Immerhin die Reisestelle für die Abgeordneten hat noch offen. Fernab des Plenarsaals wirken unterdessen die menschenleeren langen Flure nun noch mehr wie die eines Gefängnisses. Wen man hier noch trifft, ist meist auf dem Weg zum Rauchen. Am Ende wünschen sich die notorischen Kippenvertilger dann das jetzt übliche „bleibt gesund“. Wäre die Bundestagsärztin erreichbar, würde sie wohl raten, erst einmal das Rauchen aufzugeben. Aber ihre Praxis ist ja derzeit verwaist.