© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

„Hab keine Angst, du kleine Herde“
Interview mit dem syrischen-katholischen Patriarchen Ignatius Joseph III. Younan
Luca Steinmann

Eminenz, die Zahl der Christen in Nahost nimmt zusehends ab. Welche Gründe gibt es dafür? 

Ignatius Joseph III. Younan: Es gibt verschiedene Gründe. Alles begann mit der islamischen Invasion im siebten Jahrzent, als die Eroberer den Plan hatten, eine absolute Version des Islams durchzusetzen. Sie verstand den Islam als die Erfüllung der christlichen sowie der jüdischen Offenbarung. Das führte zur direkten oder indirekten Verfolgung der Christen und zu konsequenten Massenkonvertierungen. Leider existieren heute solche Verständnisse des Islams immer noch und sind demnach erster Grund für die Verringerung der Zahl der Christen in den vergangenen zwanzig Jahren. 

Denken Sie dabei an den islamistischen Terror?

Younan: Ich spreche vor allem von dem sogenannten islamischen Radikalismus, der politisch in der Ideologie des Wahabismus und der Muslimbrüder Ausdruck findet. Es handelt sich um theokratische Weltanschaungen, welche die Grundlage für einige Terrorgruppen wie den IS oder al-Qaida bereitgestellt haben, die uns als „Ungläubige“ vernichten wollen. Diese Ideologien überleben eventuelle Vernichtungen der Terrorgruppen und bereiten uns Christen auch heute große und ständige Sorgen für die Zukunft. Wir fürchten, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Mehrheit der Bevölkerung die Trennung zwischen Staat und Glauben nicht akzeptiert und bereit ist, die Nicht-Muslime zu diskriminieren.

Fühlen sich die Christen vom Westen unterstützt?

Younan: Die Christen des Nahen Ostens fühlen sich vom Westen verlassen und tief verraten. Obwohl wir das Erbe von jahrtausendealten Kulturen weitertragen und die ersten Missionare dieses Glaubens waren, merken wir daß unser Überleben für den Westen nicht wichtig ist. Viele Christen fragen sich, wieso der Westen so vorsichtig jede Art Minderheit schützt und gleichzeitig die verwundbarste Minderheit des Nahen Ostens, die in kurzer Zeit sogar verschwinden könnte, vergißt.

Was sind die Gründe für diese Ignoranz?

Younan: Wir sind eine Minderheit, oft wirtschaftlich uninteressant und sind für die internationale Sicherheit keine Bedrohung. Der Westen unterstützt lieber Staaten, die wirtschaftlich interessant sind, auch wenn diese die oben genannten Ideologien verfolgen.

Wie bewerten Sie die Positionierung des Westens gegenüber dem Terror??

Younan: Der Westen ist gegenüber dem Terror sehr zweideutig. Das ist wahrscheinlich der sogenannten „politischen Korrektheit“ zuzuschreiben, welche von vielen Politikern, Medien und Nichtregierungsorganisationen benutzt wird. Auf der einen Seite verweigern oder scheuen sich die Politiker davor, zu sagen, daß 90 Prozent des globalen Terrors dem radikalen Islam zuzuordnen ist. Auf der anderen Seite unterstreichen sie aber auch, daß die westliche Bevölkerung immer älter wird. Es scheint also, daß die Entvölkerung des Nahen Ostens im Endeffekt für eure Gesellschaften positiv, für uns aber katasprophal ist.

Was meinen Sie damit?

Younan: Es wird mehr und mehr deutlich, daß die Massenauswanderung der Jugend zu einer Verarmung der Ursprungsländer führt. Dabei zogen die Massenauswanderungswellen, die wir erlebten und erleben, furchtbare Tragödien nach sich: der Verlust der Heimat sowie die soziale und religiöse Entwurzelung sind nur einige der schlimmen Konsequenzen einer nicht geplanten Migration. Die Konsequenzen davon werden sowohl die Ursprungsländer als auch die Bestimmungsländer zu spüren bekommen. So kann, so darf es nicht weitergehen. 

Deutschland und andere Staaten der Europäischen Union propagieren das Instrument der „Hilfe vor Ort“. Was könnte der Westen weiter tun,  um die Jugend von Migrationsgedanken abzuhalten?

Younan: Die Hilfe vor Ort braucht vor allem ein gemeinsames Vorgehen der Europäischen Union. Es muß sichergestellt werden, daß die Unterstützung auch diejenigen vor Ort erreicht, die wirklich in Not sind. Auch ist es wichtig, Menschen zu finden, die überhaupt die Fähigkeit besitzen, die Unterstützung in nachhaltige Wirtschaftsprojekte zu transformieren. Mein Rat an die Europäische Union ist folgender: Identifizieren Sie klar und deutlich die Ursachen der Migration. Unterscheiden Sie strikt zwischen den Kriegsflüchtlingen und den Wirtschaftsmigranten. Dann können Sie klar feststellen, was wo gebraucht wird. Unterstützen Sie dann die Länder des Nahen Osten, die es schaffen, eine zivile Regierung zu etablieren, die niemanden wegen des Glaubens diskriminiert. 

Der Westen will, daß sich sein Thema „Menschenrechte und Demokratie“ auch in Nahost etabliert. Was denken Sie daüber?

Younan: Es ist klar und deutlich, daß die politischen Systeme in den Ländern mit einer muslimischen Mehrheit sehr wenig mit den sogenannten „westlichen Demokratien“ gemein haben. Bis heute gab es kaum eine Wahl in einem muslimischen Land, in der nicht die Religion eine wichtige Rolle spielte. Auf der anderen Seite aber werden Staaten kritisiert, ja heftigst angegriffen, die das Zusammenleben von verschiedenen Religionen ermöglichen.

Sprechen Sie von Syrien?

Younan: Auch. Und ich spreche von den Wirtschaftssanktionen, die heute furchtbare Konsequenzen für die syrische Bevölkerung haben. Die Sanktionen richten sich gegen einen Staat, der die Minderheiten und die Glaubensfreiheit verteidigt. Die syrische Jugend möchte studieren und arbeiten. Aufgrund dieser Sanktionen ist dies nicht möglich. Unser Ziel ist, ihnen Hoffnung zu geben, auch wenn es zu dieser Zeit sehr schwierig ist.

Sie haben sich sehr kritisch gegenüber der Masseneinwanderung nach Europa geäußert. Wie bewerten Sie die Haltung der Katholischen Kirche?

Younan: Wir Christen folgen der Lehre des heiligen Jesus, der uns gelehrt hat, den Fremden willkommen zu heißen. Die Christen des Nahen Ostens haben in diesen schwierigen Jahren viel Unterstützung von unseren europäischen Brüdern bekommen, dafür sind wir sehr dankbar. Um diese schwierigen Zeiten zu bewältigen, bitten wir sie darum, unsere Jugend zu unterstützen. Viele Jugendliche sind heute entwurzelt und orientierungslos. Wir wollen ihnen helfen, stark im Glauben und in der Hoffnung zu bleiben und die eigene Heimat nicht zu vergessen. Wir wollen sie immer an die Worte des Herren erinnern: „Hab keine Angst, du kleine Herde“.