© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Budapest schießt zurück
Ungarn: Orbáns Vorgehen in der Corona-°Krise stößt auf harsche Kritik in Westeuropa
Josef Mathias Roth

Guy Verhofstadt kannte keine Gnade. Schon vor drei Jahren habe er Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán mit seiner „illiberalen“ Politik konfrontiert, twitterte der Vorsitzende der liberalen ALDE-Fraktion im EU-Parlament: „Was kommt als Nächstes? Bücher verbrennen? Heute stellt sich heraus, daß es noch viel schlimmer ist: er setzt das Parlament aus & untergräbt die Demokratie. Zurück in die UdSSR! Worauf in aller Welt wartet die Europäische Kommission? Sie sollte Orbán sofort stoppen!“

Maßnahmen werden von den Ungarn mitgetragen 

Auch andere westeuropäische Politiker kritisierten das am 30. März erlassene Notstandsgesetz. Die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley sieht Polen und Ungarn „auf dem Weg zu undemokratischen Staaten“. Und der CDU-Politiker und Bewerber um den Parteivorsitz, Norbert Röttgen, behauptet: „Orbáns Notstandsgesetz schaltet de facto die Opposition aus“. Dies sei ein „Dammbruch“, den die EU nicht akzeptieren dürfe.

Ungarn hatte entschlossen auf die Ausbreitung von Corona reagiert. Bereits am 11. März erklärte die Regierung in Budapest eine „nationale Gefahrenlage“. Am 16. März erließ die ungarische Regierung ein generelles Einreiseverbot für Ausländer. Und am 28. März wurde eine weitgehende Ausgangssperre erlassen, wobei dringende Erledigungen wie Einkaufen und Arztbesuche erlaubt bleiben. Eine bemerkenswerte Regelung ist, daß in der Zeit von neun bis zwölf Uhr nur Personen über 65 einkaufen können, um ältere Menschen besser zu schützen.

All diese Maßnahmen werden von der Bevölkerung mitgetragen. Laut Umfrage eines regierungskritischen Meinungsforschungsinstitutes unterstützen 69 Prozent der Ungarn die Ausgangssperre. 

Nun haben am 1. April dreizehn europäische Regierungen, darunter Deutschland, Frankreich, Italien, die Benelux-Staaten und die drei skandinavischen EU-Staaten, das Gesetz in einer gemeinsamen Stellungnahme kritisiert. 

Das Notstandsgesetz gibt der ungarischen Regierung ohne Zweifel außerordentliche Vollmachten. Ministerpräsident Orbán kann bis auf weiteres mit Dekreten ohne parlamentarische Zustimmung regieren. Doch in Zeiten von Corona hat die große Mehrheit der EU-Länder mit drastischen Maßnahmen reagiert. Auch anderswo mehren sich die Stimmen in der Öffentlichkeit, die vor einer unbegrenzten Verlängerung des jetzigen Ausnahmezustands warnen. 

Tatsache ist, daß das ungarische Grundgesetz Rechte garantiert, die in der jetzigen Situation weitergelten. So kann auch während eines Gefahrenzustands die Anwendung des Grundgesetzes nicht ausgesetzt werden. Zudem darf die Tätigkeit des Verfassungsgerichts nicht eingeschränkt werden, und die Regierung darf auch nicht die grundlegendsten Rechte einschränken. 

Das Verfassungsgericht ist sich seiner gestiegenen Bedeutung durchaus bewußt. So erklärte der Präsident des Verfassungsgerichtes, Tamás Sulyok: „In Zeiten des Notstands kommt dem Verfassungsgericht eine größere Verantwortung zu. Die Mitglieder des Gremiums sind die Hauptkontrolleure über die Verordnungen der Regierung, wenn das Parlament nicht tagt. Sie prüfen richterliche Entscheidungen und die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze.“.

Ein typisches Beispiel „westlicher Doppelmoral“

Die Befürchtung der Gegner Orbáns, die ungarische Regierung könne das Parlament auflösen, erscheint wenig stichhaltig. Orbán kann kein ernsthaftes Interesse daran haben, ein Parlament aufzulösen, indem die Regierungspartei Fidesz eine Zweidrittelmehrheit hält. „Ich brauche keine feste Frist“, betonte  Orbán am 30. März, das Parlament  könne das Notstandsgesetz schon morgen früh zurücknehmen, wenn es dies für unangemessen halte. Am 3. April präzisierte er im Radio Kossuth die Lage. Demzufolge gelten die Ausgangsbeschränkungen bis Ostersamstag. Eventuell müßten sie verlängert werden. Das Osterfest sei vielleicht die geeignete Zeit, zu überdenken, „wie wir unser Leben bis zum Finden eines Impfstoffes gegen das Coronavirus gestalten“, betonte Orbán.

Parallel dazu kritisierte Staatssekretär Zoltán Kovács die „Hexenjagd und koordinierte Verleumdungskampagne“ der Europäischen Union gegen das neue Gesetz. Er wies die von der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, geäußerte Besorgnis über die ungarischen Notfallmaßnahmen als „ein typisches Beispiel für die politische Doppelmoral“ zurück und argumentierte, daß Orbán durch das Gesetz zur Bekämpfung der Epidemie keine größeren Befugnisse als die des französischen Präsidenten in Friedenszeiten erhalten habe. „Wir bitten alle, sich auf den Schutz zu konzentrieren“, sagte Kovács. 

Angesichts der Kritik blickt Ungarn  bei der Suche nach verläßlichen politischen Freunden verstärkt nach Osten. Das gute Verhältnis Orbáns zu Putin ist allgemein bekannt. Im Zuge der Corona-Krise kritisierte Orbán die Europäische Union mit der Aussage: „Die Hilfe kommt nicht wirklich von der EU“, sondern aus China.

Eine direkte Konfrontation mit dem ungarischen Ministerpräsidenten wird die Europäischen Union schon deswegen vermeiden, um den Einfluß Pekings und Moskaus in Ungarn nicht noch stärker werden zu lassen. Und gleichzeitig hat Orbán, bei aller Kritik an der EU und ihrer Politik, einen offenen Bruch mit Brüssel stets vermieden.