© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Im Hinblick auf Gefühlsregungen gibt es eine ganze Reihe von Begriffen, deren Übersetzung schwerfällt. Bekannt ist das im Hinblick auf die deutsche „Sehnsucht“, „Gemütlichkeit“, „Schadenfreude“. Aber immerhin weisen doch alle Sprachen Begriffe für starke Gefühle wie Liebe, Haß, Angst, Wut, Mitleid, Traurigkeit etc. auf. Daß allerdings exakt dieselben Emotionen mit denselben Termini gemeint sind, erscheint nach einer neueren Untersuchung eher zweifelhaft. Eine Forschergruppe der Universität von Chapel Hill, North Carolina, der australischen Nationaluniversität und des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena hat 2.474 Sprachen aus 20 Sprachfamilien daraufhin untersucht, welcher Begriff für ein bestimmtes Gefühl mit welchen anderen Begriffen assoziiert wird. Dabei ergab sich zum Beispiel, daß „Überraschung“ bei den austronesischen Sprachen mit „Furcht“ verknüpft ist, während bei den Idiomen des tai-kadai, die sich in Indochina verbreitet finden, „Überraschung“ an „Hoffnung“ gebunden scheint. In den indoeuropäischen Sprachen ist die „Wut“ gewöhnlich mit „Angst“ gekoppelt, während die Maori „Haß“ und „Stolz“ dabei empfinden, „Eifersucht“ liegt bei den kaukasischen Sprachen nahe und „Bedauern“ in den Sprachen der Khmer.

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Im Internet läuft ein kurzes Video um, das drei Offizielle zeigt, die in einer Pariser Schule die anwesenden Jugendlichen fragen, wer von ihnen die französische Staatsangehörigkeit habe: praktisch alle; danach, wer sich als Franzose betrachte: niemand. Auf die irritierte Nachfrage, wer denn die Franzosen seien, ist die Reaktion der bunten Schar eindeutig: die Weißen.

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Der Ernstfall wirkt enthüllend. Das heißt, man erkennt, was im Regelfall verborgen bleibt. Wir erkennen zum Beispiel, daß die Verwaltung immer noch ein erstaunliches Maß an Tüchtigkeit besitzt und in kurzer Zeit Maßnahmen ergreifen kann, bei denen auf keine der üblichen Empfindlichkeiten Rücksicht genommen wird. Wir erkennen auch, daß sich Deutschland diesbezüglich von seinen europäischen Nachbarn im Süden und Westen unterscheidet, deren traditionelle Formschwäche wieder zutage tritt. Ihr Verhalten führt uns weiter vor Augen, daß die „europäische Solidarität“ nur dürftig kaschiert, daß Frankreich, Spanien und Italien im Zweifel dem Prinzip des sacro egoismo folgen und die alten Ressentiments gegenüber Deutschland rasch wieder bei der Hand haben, wenn es darum geht, einen Sündenbock zu finden oder die finanziellen Folgen der eigenen Inkompetenz zu bewältigen. Schließlich erkennen wir noch, daß Populismus als Begriff zu unscharf ist. Jedenfalls gibt es Populisten, die offenbar nur Demagogen sind (Trump, Bolsonaro), und andere, die sich als Staatsmänner erweisen (Orbán).

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Die Netflix-Serie „The English Game“ ist das neueste Produkt des Drehbuchautors Julian Fellowes. Das Historiendrama behandelt die Anfänge des Profifußballs auf den Britischen Inseln. Den Hintergrund bildet die spätviktorianische Gesellschaft mit ihren scharfen Klassengegensätzen. Hier die gentlemen, Erfinder eines geregelten Spiels, das ihren Bedürfnissen entspricht, da die Arbeiter, die tricksen müssen, um das Verbot der Bezahlung zu umgehen. Der Erfolg des Projekts von Fellowes kann als sicher gelten. Das hat nicht nur mit der Qualität der Arbeit zu tun, sondern auch mit dem, was man Fellowes Agenda nennen könnte: Der Mann, der als Vertreter der Tories im Oberhaus sitzt, verficht eine spezifische Variante dessen, was man im Vereinigten Königreich One-nation-Konservatismus nennt. Vor allem in Fellowes Serie „Downton Abbey“ hat sich das gespiegelt. Das heißt, es geht ihm nicht um die Idyllisierung einer Vergangenheit, sondern darum, aus ihr Modelle abzuleiten für ein Gemeinwesen, das sich voller Stolz zu seinen Traditionen bekennt und sie schleift, wenn das für den Zusammenhalt und Fortbestand des Ganzen notwendig ist.

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Der Historiker und Anthropologe Andreas Vonderach hat ein neues Buch veröffentlicht, das den Titel „Die Dekonstruktion der Rasse“ (Ares-Verlag, Graz) trägt. Es handelt sich um eine konzentrierte Arbeit, die der Frage nachgeht, wie es gelingen konnte, den Rassenbegriff als „rassistisch“ aus der öffentlichen Debatte zu tilgen und in der Wissenschaft ganz an den Rand zu drängen. Dabei zeichnet Vonderach mit der für ihn typischen Akribie die ideologischen und politischen Hintergründe des Paradigmenwechsels nach, benennt aber auch gegenläufige Tendenzen. Etwa in der Medizin, weil man die Notwendigkeit erkennt, Heilmittel nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach „ethnischer“ Zugehörigkeit zu spezifizieren, was zu einem neuen – oft verdeckten – Rekurs auf die Frage nach der Rassenzugehörigkeit des Individuums geführt hat. Vonderachs eigene Position ist wie immer nüchtern, differenziert, aber klar umrissen: „Rassen sind real. (…) Das Wesentliche einer Rasse bildet der Komplex miteinander korrelierter Merkmale. Diese sind nicht willkürlich, sondern nachweisbar. Rassen sind weder klar voneinander abgrenzbar noch in sich homogen, noch statisch, aber real und existent.“


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 24. April in der JF-Ausgabe 18/20.