© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Adaption und Improvisation
Die Verfilmung des posthum veröffentlichten Siegfried-Lenz-Romans „Der Überläufer“ für die ARD bügelt die Schwächen der Vorlage geschickt aus
Dietmar Mehrens

Das schafft auch nicht jeder: als bereits Verstorbener die deutschen Belletristik-Bestsellerlisten zu stürmen. Dem gebürtigen Ostpreußen Siegfried Lenz gelang dieses Kunststück mit seinem Roman „Der Überläufer“. Er erschien 2016, zwei Jahre nach dem Tod seines Verfassers. Da kaum eine Erzählung des Wahl-Hamburgers unverfilmt blieb – im letzten Jahr kam „Die Deutschstunde“ (JF 41/19) in die Kinos –, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch dieser ursprünglich zweite Roman des Autors als spannende Filmerzählung einem Millionenpublikum zugänglich gemacht werden würde.

Florian Gallenberger, der bereits mit seinem monumentalen Spielfilm „John Rabe“ (2009) über den „Oskar Schindler von China“ sein Gespür für zeitgeschichtliche Stoffe unter Beweis gestellt hatte, nahm sich des Posthum-Bestsellers an und inszenierte einen Fernsehzweiteiler. Am Karfreitag läuft in der ARD der zweite Teil.

In zwei Teile zerfällt auch der Roman, was mit seiner holprigen Entstehungsgeschichte zusammenhängt. Der vom Verlag Hoffmann und Campe bestellte Lektor Otto Görner hatte nach Sichtung der ersten Fassung 1951 eine Reihe von Änderungswünschen und war mit deren Umsetzung unzufrieden. Lenz schmiß hin. Geradezu reflexhaft hat die zeitgenössische Literaturkritik als Hauptgrund für das Scheitern des Romans die Adenauer-Ära mit ihrem für eine „unpatriotische“ Romanhandlung vermeintlich ungünstigen Klima ausgemacht. Aber war das wirklich ausschlaggebend?

Bis Kapitel 9 ist „Der Sumpf“, wie das Buch zunächst heißen sollte, ein Stück wie aus einem Guß: Mit großer Intensität und Authentizität schildert Lenz, ausgehend von seinen eigenen Kriegserfahrungen, die Abenteuer des deutschen Obergrenadiers Walter Proska (im Film verkörpert von Jannis Niewöhner), der, unterwegs Richtung Ostfront, die polnische Widerstandskämpferin Wanda (Malgorzata Mikolajczak) trifft. Nach einem Sprengstoffanschlag auf den Zug stößt Proska auf ein Kommando deutscher Soldaten. Gruppenführer ist der zynische Unteroffizier Willi Stehauf, der kaltblütig einen polnischen Pfarrer erschießt. Rainer Bock stellt ihn im Film noch eine Spur humor- und skrupelloser dar als der Roman. Heimlich trifft Proska Wanda wieder; sie wird seine Geliebte. Als sie erfährt, daß ihr Liebhaber ihren Bruder erschossen hat, wird sie von den widerstreitenden Gefühlen, die das in ihr auslöst, förmlich zerrissen – Liebe in Zeiten des Krieges.

Von Konformismus zu Grausamkeit

Florian Gallenberger hat die Stimmung der ersten Romanhälfte mit malerischen Bildern von Moorgebieten und Birkenwäldern nahezu perfekt eingefangen. Und er hält sich weitgehend an die Vorlage. Mit der zweiten Romanhälfte, in der Walter Proska nach der Gefangennahme seines Trupps dem Vorbild seines Kameraden Wolfgang folgt und zur Roten Armee überläuft, konnte er dagegen nicht viel anfangen.

Der zweite Teil des Fernsehfilms ist mehr Improvisation als Adaption. Der Roman ist Lenz nämlich bei dem Versuch, Görners Kritik umzusetzen, förmlich entgleist: Episodenhaft, flüchtig und fragmentarisch wirken die Szenen, schatten- und schemenhaft die Figuren. Wanda tritt noch einmal auf, auch Zwiczos, ein Kamerad aus dem Sumpf. Doch beide Begegnungen bleiben folgenlos. Wanda verblaßt zum Phantom – untauglich für einen Spielfilm mit großen Gefühlen. Gallenberger macht aus der Not der fragmentierten Vorlage die Tugend eines Neustarts. Er bläst das Wanda-Drama mit „Casablanca“-Charme zum emotionalen Liebesmelodram auf, radiert das Ende von Lenz’ Roman völlig aus, ersetzt es durch eine Szene, die fünf Jahre nach dessen Entstehung spielt, läßt überleben, was dort stirbt, und sterben, was dort gar nicht mehr der Rede wert war.

Mit sicherem dramaturgischem Gespür hat Gallenberger als wichtigstes Thema des zweiten Teils die Mutation der kommunistischen Befreier zu repressiven Rotfaschisten ins Zentrum seiner Verfilmung gerückt. Er exerziert sie an der Figur von Proskas Kampfgefährten Wolfgang durch, der bei Lenz im Gefecht fällt. An der Verteilung von gut und böse „nach einfachem Rezept“ sei ihm nicht gelegen gewesen, erklärt der Regisseur seine Weigerung, den Film auf die allzeit opportune Nazi-Schelte zu verengen, denn so sei „der Komplexität der Welt“ nicht zu begegnen. In Lenz’Roman hat beides seinen festen Platz: das inhumane Umschlagen von Konformismus in Grausamkeit sowohl bei Hitlers willigen Willi Stehaufs als auch bei Stalins linken Lakaien. Erstes Opfer paranoider Parteihörigkeit in beiden Fällen: die Menschenrechte.

Florian Gallenbergers TV-Zweiteiler läßt erkennen, daß es auch gänzlich unpolitische Gründe dafür gegeben haben kann, daß „Der Überläufer“ 1952 nicht zu Buchweihen gelangte. Er zeigt, welches Potential Lenz ungenutzt ließ.

Der erste Teil lief am Mittwoch in der ARD, der zweite folgt am Karfreitag um 20.15 Uhr.

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