© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Vom Stasi-Mitarbeiter zum Regime-Gegner
Intellektueller Feuerkopf: Erinnerungen des ehemaligen DDR-Dissidenten Rolf Henrich
Heimo Schwilk

Rolf Henrichs Erinnerungen lesen sich wie ein Schlußwort zur Feier von 30 Jahren Mauerfall. Kein anderes Buch, das im Jubiläumsjahr 2019 erschienen ist, hat die politische Desillusionierung der um 1945 im Osten Deutschlands Geborenen eloquenter, ehrlicher, schonungsloser auf den Punkt gebracht. Henrichs „Ausbruch aus der Vormundschaft“, so der Titel, ist die Lebensgeschichte eines Mannes, der aus falschem Idealismus zum Mitläufer, ja kurze Zeit auch Mittäter wurde, um am Ende, im Jahr des Mauerfalls, mit seinem im Westen publizierten Pamphlet „Der vormundschaftliche Staat“ alles zu riskieren, um seine Selbstachtung zu retten. 

Vielleicht war es neben einem auftrumpfenden Selbstbewußtsein, das seine späteren Stasi-Überwacher in ihren Berichten irritiert zu Protokoll gaben, Henrichs Hegel-Lektüre, die ihm den Blick darauf verstellte, daß die Welt nicht von Vernunft, sondern von Machtinteressen beherrscht wird. Als „überspannter Jüngling“, der „mit einem Reim auf den Lippen“ und „im Gleichschritt“ dem sozialistischen „Morgenrot“ zielstrebig entgegenging, war Henrich ein gar nicht untypisches Kollaborateur der DDR-Diktatur, die den jugendlichen Idealismus zynisch mißbrauchte.

Sehr schnell wurde Rolf Henrich während des Studiums der Rechtswissenschaften mit dem „Klassenstandpunkt“ konfrontiert, eine der Totschlagvokabeln der marxistisch-leninistischen Theorie, die jede Verhaltensweise daran mißt, ob der Handelnde sich eins weiß mit den Interessen der Arbeiter und Bauern – oder nicht doch einen falschen, im Zweifelsfall „bürgerlichen“ Standpunkt vertritt, der ihn als Klassenfeind entlarvt. Durch Selbstkritik und öffentliche Parteitribunale hatte sich der Abweichler zu rechtfertigen und vor allem: zu Kreuze zu kriechen.

Eigentlich wollte Rolf Henrich Philosoph werden. Aber ausgerechnet seine bewunderte Klassenlehrerin, die ihm mit der Lektüre von Seneca, Kant und vor allem Hegel die Türen zum philosophischen Denken geöffnet hatte, riet ihm zu einem „Brotberuf“. Als hätte sie gespürt, daß dieser intellektuelle Feuerkopf den Abgrund zwischen Theorie und Praxis nicht würde aushalten können. Also studierte Henrich Jura, zuerst an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, dann in Berlin. Aber der Abgrund öffnete sich auch hier rasch: Zwar erhielt der hochbegabte Student den begehrten Fichte-Preis der Humboldt-Universität, doch galt er als „unzuverlässig“ und stand wegen seiner Sympathie für den Prager Frühling unter Revisionismusverdacht.

Generalabrechnung mit dem Unrechtsstaat DDR

Dabei war Henrich, durchaus anpassungsbereit, in die SED eingetreten, avancierte zum Parteisekretär und wurde 1966 sogar IM, inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Man schickte den ehrgeizigen jungen Mann, der auf filmreife Geheimdienstabenteuer hoffte, auf „Auslandsmission“ ins „Operationsgebiet“ Bayern. In München sollte er einen verheirateten Schriftsetzer, der eine Geliebte in der DDR hatte, „bearbeiten“ mit der Stasi zu kooperieren. Schnell erkannte Henrich, wie banal seine sich in schäbigen Hotelzimmern abspielende konspirative Tätigkeit war, „stinklangweilige“ Gespräche bei Thüringer Rostbratwurst, in denen er belanglose Einschätzungen über seine Kommilitonen auszuplaudern hatte. Schließlich verzichtete das MfS auf seine lustlose Mitarbeit. 

Als junger Anwalt mußte der noch immer glühende Sozialist erfahren, wie verlogen das Justizsystem der DDR war. Auch hier ein Auseinanderfallen von Theorie und Praxis. Sämtliche selbstverbriefte Rechtsgrundsätze wurden in praxi systematisch und oft mit Unterstützung der Stasi gebrochen, was am Ende selbst Sympathisanten des Sozialismus und SED-Genossen gegen die DDR aufbrachte. Henrich orientierte sich an Dissidenten wie Rudolf Bahro („Die Alternative“), Robert Havemann, Wolfgang Harich, Ernst Bloch und Walter Janka, übte sich im Austesten von Spielräumen. Anders als Gregor Gysi war Rolf Henrich keineswegs ein Beschöniger und Erbe der SED-Diktatur, die kein deutscher Arbeiter-und-Bauern-Staat war, sondern eine willfährige Sowjetkolonie, eine „asiatische Despotie“ (Henrich), geführt von kleinbürgerlichen Apparatschiks.

Im März 1989 ging er selbst in die Offensive. Der Vorabdruck seiner Generalabrechnung mit dem „Vormundschaftlichen Staat“ im Magazin Der Spiegel schlug ein wie eine Bombe. Ausgerechnet ein scheinbar systemkonformer Anwalt hielt dem Unrechtsstaat DDR den Spiegel vor! Henrich konstatierte „Grundlügen“ des sozialistischen Gesellschaftssystems, verdammte die „sklavische Arbeitsdisziplin“ und höhnte über „rüdeste polizeiliche Ordnungsvorstellungen“. Noch bevor das Buch im April bei Rowohlt erschien, wurde sein Autor aus der SED ausgeschlossen und mit einem Berufsverbot belegt. Wegen des Aufsehens im Westen sah die DDR-Spitze von einer Verhaftung ab. 

Dann überschlugen sich bekanntlich die Ereignisse, und Rolf Henrich wurde gleichsam über Nacht zu einer der Galionsfiguren der Friedlichen Revolution. Er war Mitunterzeichner des Gründungsaufrufs der Bürgerbewegung Neues Forum und einer der Vertreter der Opposition am Runden Tisch in Berlin. Doch die Weltfremdheit und politische Unerfahrenheit der Bürgerrechtler stießen den in juristischen Formeln denkenden und philosophisch geschulten Denker ab – vor allem die aus den Pfarrhäusern, die einer „Kirche im Sozialismus“ anhingen. 

Die deutsche Einheit zu denken galt in diesen Kreisen als nationalistisch und gefährlich. Erst einmal sollte der „demokratische Sozialismus“ verwirklicht werden. Allenfalls eine Konföderation der beiden deutschen Staaten war für die Mehrzahl der Bürgerrechtler eine – ferne – Vision. Statt die sich immer deutlicher abzeichnende Einheit zu gestalten, also Ideen zu einer gesamtdeutschen Verfassung einzubringen, erschöpfte sich die Energie der Bürgerrechtler im Aufhalten des Unaufhaltbaren. Ähnlich wie zuvor die SED entfremdeten sie sich rasant vom DDR-Bürger, der in seiner vermeintlichen Gier nach Begrüßungsgeld und Bananen als Spießer heruntergemacht wurde. „Die Krone lag auf der Straße“, schreibt Henrich, aber keiner wollte sie sich aufsetzen. Das machte es Helmut Kohl, Ironie der Geschichte, leicht, in diese Lücke mit seiner pragmatischen Politik hineinzustoßen. 

Auch die West-Linke kommt nicht gut weg in Rolf Henrichs Erinnerungen. Ihre Anhänger hielten die DDR schon immer für das bessere Deutschland und sahen in der deutschen Vereinigung keine Chance, sondern eine Gefahr für den Weltfrieden. Mit dem Satz „Wer das eigene Land liebte, wurde schnell zur komischen Figur“ ist Rolf Henrich in seinem fulminanten Kapitel „Deutschsein in Europa“ in der Gegenwart angekommen. Was er über die „deutsche Mimikry“ im Wendejahr 1990 schreibt, könnte man spielend in die Jetztzeit verlängern. Denn der deutsche Nationalmasochismus ist auch im 21. Jahrhundert ungebrochen. Wenn die deutsche Einheit schon nicht abgewendet werden könne, so Linkspolitiker und Intellektuelle in Ost und West, solle sie wenigstens durch eine „Einbindung“ in supranationale Strukturen neutralisiert werden. Wer denkt dabei nicht an die heutige Ersatzreligion Europa?

Rolf Henrichs lehrreiche und hochspannende Erinnerungen lesen sich so auch als Brevier deutscher Irrungen und Wirrungen – auch die des Autors selbst.  






Dr. Heimo Schwilk, Jahrgang 1952, Journalist und Buchautor, war unter anderem leitender Redakteur der Welt am Sonntag.

Rolf Henrich: Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen. Ch. Links, Berlin 2019, gebunden, 384 Seiten, 25 Euro