© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/20 / 10. April 2020

Die ganz persönliche Stunde Null
Der Tod als letzter Ausweg: Im letzten Halbjahr des Zweiten Weltkriegs verübten abertausende Deutsche Selbstmord
Paul Leonhard

Tod schien der einzige Ausweg“, notiert die US-amerikanische Fotografin Margaret Bourke-White in ihren Aufzeichnungen. Gerade hat sie in Schweinfurt eine jener Aufnahmen gemacht, mit denen sie ihre Erfolge feiert: tote Deutsche. In diesem Fall sind es zwei kleine Mädchen. Sie liegen im Wohnzimmer auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Stofffetzen bedecken die Augen. Bourke-White ist seit 1942 als Fotojournalistin für Europa akkreditiert und begleitet die US-Truppen bei ihrem Vormarsch. Längst weiß sie, wonach die Fotochefs der großen Illustrierten gieren: keine toten Soldaten, sondern Dramen wie jenes in Schweinfurt, wo Anfang April 1945 eine Mutter ihre beiden Töchter vergiftet hat und dann im Keller selbst den Freitod wählt.

Bourke-White inszeniert die Szene so, daß eine herbeigeholte ältere Frau neben den Kindern steht, bereit, ein Laken über sie zu breiten, der Fotografin sozusagen noch einen letzten Blick gewährend. Und die Amerikanerin weiß auch, welche Emotionen die US-Öffentlichkeit von ihr erwartet: „Es war eine meiner schwersten Aufgaben, mich dazu zu bringen, diese zarten, rührenden Leichen zu fotografieren.“ Anschließend marschiert sie ungerührt in den finsteren Keller, baut das Stativ auf und blitzt effektheischend in das Dunkle: „Dieses kurze Aufleuchten genügte, um das Bild unauslöschlich in mein Bewußtsein zu prägen.“ Auf einer Matratze zwischen Heizungsofen und dem Kohlenhaufen lag die nur mit Unterwäsche bekleidete tote Mutter.

Die Fotografin ist auch zur Stelle, um im noch umkämpften Leipzig die „Suicide Alley“ im Rathaus zu fotografieren. Hier liegen die Leichen von Oberbürgermeister Alfred Freyberg und Kämmerer Ernst Lisso sowie deren Frauen und Töchter. Begierig filmt ein amerikanisches Kamerateam das „grausige Schauspiel“, so der britische BBC-Korrespondent Edward Ward. In Blutlachen liegen der stellvertretende Kreisleiter Willy Wiederroth, Volkssturmführer Walter Dönicke und zwei Mitglieder seines Stabes. Während Bourke-Whire offenbar von einer Leiter aus fotografiert, schreckt ihre Kollegin Lee Miller, die für Life vor Ort ist, nicht einmal davor zurück, das Interieur zu verändern, um eine bessere Perspektive auf die Leichen zu bekommen, die sie aus Nahperspektive aufnimmt. 

Der Selbstmord bzw. „erweiterte Selbstmord“ der Mutter mit ihren Kindern in Schweinfurt und die Selbsttötungen der Leipziger NS-Elite stehen symbolisch für den Freitod Abertausender Deutscher ab Ende April 1945. Sie haben Todesangst vor dem Wüten der heranrückenden Alliierten, sehen nach dem Zusammenbruch des NS-Systems im Leben keinen Sinn mehr oder werden von den Siegern so gedemütigt, daß sie aus dem Leben scheiden.

Mehrere zehntausend Zivilisten begehen Suizid

Eine beispiellose Selbstmordwelle rollt seit dem Frühjahr über das Reich, in dem ohnehin Weltuntergangsstimmung herrscht. Sie wird von der vorrückenden Roten Armee ausgelöst und läßt sich von Ostpreußen über Pommern, Mecklenburg bis Brandenburg und Berlin nachverfolgen. Im hinterpommerschen Lauenburg begehen etwa 600 Menschen Suizid, in Friedland in Ostmecklenburg mehr als 500, in Neustrelitz mindestens 300, in Neubrandenburg Hunderte, in Teterow mehr als hundert, in Demmin zwischen 700 und 1.000. Diese Zahlen hat der Historiker Florian Huber recherchiert und unter dem Titel „Kind, versprich mir, daß du dich erschießt – Der Untergang der kleinen Leute 1945“ veröffentlicht. Insgesamt haben sich in den Ostprovinzen Deutschlands wohl mehrere zehntausend Zivilisten das Leben genommen, möglicherweise sogar eine Zahl im oberen fünfstelligen Bereich, so Huber über das Ergebnis seiner detaillierten Recherchen in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Die „Selbstmordepidemie“ sei ein „Massenphänomen erschreckenden Ausmaßes“ gewesen. Bis in kleinste Dörfer und Siedlungen hinein hätten sich die Menschen scharenweise vor der Eroberung der Sowjets umgebracht, „nahezu am gleichen Tag oder in den gleichen Tagen und immer nach dem gleichen Muster“. 

„Es besteht die Gefahr einer Selbstmordepidemie“, warnt Gerhard Jacobi, Pfarrer der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, bereits Anfang März 1945 einem dänischen Korrespondenten: „Wiederholt werde ich von Mitgliedern meiner Gemeinde aufgesucht, die mir anvertrauen, sie hätten sich eine Ampulle mit Zyankali gesichert.“ Die Menschen würden keinen Ausweg mehr sehen. Jacobi hatte in seinem Gemeindesaal gegen den „Erzfeind von Leben und Seele“ gepredigt, gegen den Selbstmord. Allein bis Mitte April registrieren die Behörden, soweit sie bis zu den Endkämpfen noch arbeiten, 3.881 Suizide in der Reichshauptstadt. Die danach einsetzende Selbstmordwelle ist damit noch nicht einmal erfaßt.

Auch im übrigen Deutschland ist die Selbstmordrate deutlich höher als in den Jahren zuvor. In Oberbayern ist die Zahl der Suizide im April und Mai 1945 zehnmal so hoch wie gewöhnlich.

Nach der Kapitulation bringen sich Hunderte Soldaten der noch unter Waffen stehenden Einheiten um, als sie begreifen, daß sie von den Westalliierten an die Sowjets ausgeliefert werden. Besonders hart trifft es dabei jene ausländischen Truppenkontingente, die bis zuletzt auf deutscher Seite gekämpft haben. Als „Tragödie an der Drau“ geht das Schicksal jener Kosakenverbände in die Geschichtsbücher ein, die sich den Briten in Osttirol ergeben hatten, 25.000 Männer, Frauen und Kinder. Als sie erfahren, das die Zwangsrepatriierung in die Sowjetunion gewiß ist, suchen Mütter mit Kindern den Tod in der hochwasserführenden Drau. Männer erschießen oder erhängen sich.Auch viele Deutsche in der Tschechoslowakei sehen, mißhandelt und aller bürgerlichen Rechte beraubt, keinen Sinn mehr im Leben und suchen Erlösung im Freitod. Im sudetendeutschen Dorf Hilbetten sind es mehr als 60 Einwohner. Komplette Familie vergiften sich.

„Täglich kommen bis zu 5.000 Deutsche aus der Tschechoslowakei, die meisten Frauen, Alte und Kinder“, meldet Sowjetgeneral Serow am 8. Juni aus Sachsen an Innenminister Berija: „Ohne Zukunft und die Hoffnung auf etwas Besseres, beenden viele ihr Leben durch Selbstmord und schneiden sich die Pulsadern auf.“ Allein in einer Region seien 71 Deutsche mit aufgeschnittenen Pulsadern gefunden worden.