© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Ans Ende denken
Abitur: Corona-Krise darf nicht zu einem Einfallstor für Weichmacherei werden
Josef Kraus

Pflichtschuldigst sei vorweggeschickt: In Corona-Zeiten steht „Gesundheit“ auf Platz 1 der Agenda. Gleichwohl gilt es, Güterabwägungen vorzunehmen. Zum Beispiel muß die Frage erlaubt sein, was eine ausschließliche Ausrichtung auf gesundheitspolitische Themen für Gemeinwesen, Gesellschaft und Staat an Kollateralschäden und Spätfolgen mit sich bringt. Denn welche Folgen eine überzogene Anti-Corona-Politik für die Bildungsnation Deutschland haben wird, ist bislang noch ungewiß.

Nun gut, drei oder vier Wochen Unterrichtsausfall durch Schulschließungen sind verschmerzbar, wenn denn in den anderen rund 35 Schulwochen pro Schuljahr ordentlich gearbeitet wird. Und wenn es die Schulen nach ihrer Wiedereröffnung verstehen, die Schüler mitzureißen. Es müßte gelingen, die in Deutschland etablierte Wohlfühl- und Gefälligkeitspädagogik mal für eine gewisse Zeit außer Kraft zu setzen.

„Müßte!“ Die Zeichen deuten in eine andere „pädagogische“ Richtung: Schulen sollen gleich in die Sommerferien übergehen. Ein Sitzenbleiben soll es nicht mehr geben. Die Notengebung soll großzügigst erfolgen. Wir wissen, daß entsprechende Maßnahmen später nicht mehr eingefangen werden.

Nehmen wir die Frage nach den schulischen Abschlußprüfungen. Hierzu haben sich die 16 deutschen Schulminister am 25. März darauf geeinigt, daß die Abiturprüfungen und die Abschlußprüfungen anderer Schulformen selbst in Zeiten von Corona stattfinden sollen – und zwar bis Ende des Schuljahres, „soweit dies aus Infektionsschutzgründen zulässig ist“. Der Beschluß ist einstimmig gefallen, auch wenn es zuvor und danach abweichende höchstministerielle Äußerungen gab.

Freilich sehen nun manche Leute in Corona-Zeiten die Chance, das Abitur 2020 und womöglich über 2020 hinaus weichzuspülen. Landauf, landab starteten ab Mitte März Schüler-Online-Petitionen gegen die Abiturprüfungen 2020. Die eigentliche Abiturprüfung, so die Petenten, sollte wegfallen, denn die Abiturprüfung mache ja nur ein Drittel der Abiturwertung aus, das letzte Drittel könne ja aus den beiden anderen Dritteln hochgerechnet oder durch die Bewertung von Hausaufgaben (wer auch immer diese dann erstellt hat) ersetzt werden. So wird argumentiert.

Selbst Schulministerinnen sind nicht frei von dieser Idee. Schleswig-Holsteins Kultusministerin Karin Prien (CDU) ist damit Mitte März vorgeprescht. Die linke Lehrergewerkschaft GEW unterstützte Priens Vorstoß als „sinnvolle und vernünftige Entscheidung“, die Vereinigung der Berliner Oberstudiendirektoren ebenfalls. Sogar die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes liebäugelte damit vorübergehend. Zwei Wochen nach dem genannten Beschluß der KMK inszenierte sich NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) unsolidarisch gegenüber der KMK: Abiturnoten sollten notfalls ohne Abschlußprüfung errechnet werden. 

Ans Ende denken – das scheint in deutscher Bildungspolitik nicht mehr üblich. Denn ein Wegfall der Abiturprüfungen provoziert ein Ansinnen von Hochschulen zu sagen: Wenn die Gymnasien kein anspruchsvolles Abitur mehr zustande bringen, dann wechseln wir zum Aditur-Modus und machen Zugangsprüfungen. 

Der Wegfall der Abiturprüfung wäre zudem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung vor dem Gesetz. Die Abiturienten des Jahres 2019 schrieben und die Abiturienten 2021 schreiben (hoffentlich) das herkömmliche Abitur. Beide Jahrgänge konkurrieren aber bei Numerus-Clausus-Studiengängen mit den Abiturienten des Jahres 2020. Gerecht ist das nicht. 

Es geht um ein aussagekräftiges Abitur, das nicht nur Studierberechtigung, sondern Studierbefähigung attestiert. Daß diesbezüglich bereits über Jahre hinweg gesündigt wurde, ist bekannt. Denn die Leistungen sind immer schwächer und die Noten immer besser geworden. Die Folge ist, daß immer mehr Hochschulen Nachhilfekurse für Studienanfänger einrichten mußten.

„Corona“ darf jedenfalls nicht zu einem Einfallstor für noch mehr Weichmacherei der Abiturpolitik werden. Eine Durchführung der Prüfungen ist bei entsprechenden Schutzmaßnahmen möglich: ausreichend Desinfektion; keine Gruppe über zehn Prüflinge; um jeweils eine Viertelstunde gestaffelter Beginn der Prüfungen; schulfrei für alle anderen Schüler; Ausschluß von Schülern, die in den zwei Wochen zuvor im Ausland waren. Hessen hat es vorexerziert; dort sind die schriftlichen Prüfungen noch vor Ostern abgeschlossen worden. Ansonsten ist es nicht nachvollziehbar, warum ein Abiturient in einer vierstündigen Klausur einem größeren Risiko ausgesetzt sein soll, als es die Kassiererin in einem Supermarkt 40 Stunden pro Woche ist.

Im übrigen gibt es genug zeitlichen Puffer für die Terminierung der Abiturprüfungen über Mai/Juni 2020 hinaus. Zwar starten einige Bundesländer bereits Mitte Juni in die Sommerferien, und gewiß wollen die Hochschulen für die NC-Studiengänge und die Ausbildungsbetriebe die Zeugnisse der Bewerber möglichst rasch sehen. Aber: Warum sollen Abiturprüfungen nicht auch Ende August oder im September stattfinden können? Die Schulen sind dazu in der Lage; die Hochschulen und die Ausbildungsbetriebe müßten entsprechend flexibel sein.

Daß „Corona“ zum Einfallstor für Blütenträume von „Homeschooling“ und/oder „digitalem“ Lernen durch „Teleteaching“ werden könnte, lassen wir getrost beiseite. Trittbrettfahrerei ist dies. Denn nichts spricht dafür, daß damit irgendwelche Bildungsprobleme gelöst würden. Nein, es würden neue geschaffen.






Josef Kraus war von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.