© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

„Politik des Patriotismus“
Rüdiger Lucassen, Bundestagsabgeordneter und AfD-Landeschef in NRW, hat die laufende Selbstauflösung des Flügels durch seinen offenen Brief an den Bundesvorstand im März mit ausgelöst. Die muß bis 30. April vollzogen sein. Was bedeutet das für die Parteirechte?
Moritz Schwarz

Herr Lucassen, ist die Auflösung des sogenannten Flügels ein Fehler?

Rüdiger Lucassen: Nein, denn endlich werden wir parallele Strukturen los, die die Dynamik unserer Partei behindert haben. Damit kann das rechtsnationale Spektrum, für das bisher der Flügel einen Alleinvertretungsanspruch proklamiert hat, als integraler Bestandteil der AfD verankert werden.  

Wie wollen Sie dieses denn integrieren und dabei eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz (VS) verhindern?

Lucassen: Zunächst einmal: Ziel unserer Politik ist es nicht, die VS-Beobachtung zu verhindern, sondern den Bürgern eine Politik des Patriotismus und der Rechtsstaatlichkeit für Deutschland anzubieten. Im Kampf gegen die AfD ist den etablierten Parteien jedes Mittel recht, und der Einsatz des VS ist eines dieser unlauteren Mittel des Bundesinnenministers in der politischen Auseinandersetzung. Es kann daher auch nicht darum gehen, was VS-Chef Thomas Haldenwang für zulässig hält, sondern allein um die Normen, die uns das Grundgesetz vorgibt. Das ist unser Maßstab. Wir dürfen als rechte Partei auch eine rechtsnationale Partei sein. Das war zu Zeiten von Franz Josef Strauß und Alfred Dregger erlaubt und ist es auch heute noch! Die Grenze verläuft dort, wo völkisches Gedankengut beginnt und Äußerungen eindeutig geschichtsrevisionistischen Charakter haben.

Im Grunde haben doch Sie den Anstoß  für die überraschende Selbstauflösung des Flügels gegeben. Denn dieser reagierte damit, quasi in einer Art Vorwärtsverteidigung, auf entsprechende Überlegungen im Bundesvorstand, die Sie mit einem offenen Brief Mitte März befeuert hatten.  

Lucassen: Es ging uns erstens darum klarzumachen, daß er seine politische Ausrichtung nicht als Alleinstellungsmerkmal beanspruchen kann – die ganze AfD besteht aus Patrioten! Zweitens mußten wir zwingend die destruktiven Flügel-Strukturen, die nicht nur unseren Landesverband immer wieder vor eine Zerreißprobe gestellt haben, beseitigen. Und ich will deutlich sagen: Wir sind „eine“ Partei, und jene, die Affinität zum Flügel verspürten, gehören, bis auf wenige Ausnahmen, unverändert zur AfD!

Wer sind diese Ausnahmen?

Lucassen: Parteimitglieder mit einer eindeutigen geschichtsrevisionistischen und rassistischen Weltsicht. Es sind wenige, aber es gibt sie.  

Sie sprechen vom aus Ihrer Sicht unberechtigten „Alleinvertretungsanspruch“ und „destruktiven Strukturen“  – aber ist der Grund für den Unmut in Partei und Bundesvorstand gegenüber dem Flügel nicht dessen Beobachtung durch den Verfassungsschutz? 

Lucassen: Das kommt noch dazu, denn Diktion und Duktus von Anhängern des Flügels sowie einige seiner Funktionäre stehen im Fokus des VS, der dies zum Anlaß nimmt, eine vorgeblich „rechtsextreme“ Gesinnung nachzuweisen. Ich halte dies zwar für falsch, muß die Situation aber in meine politische Gesamtstrategie einbeziehen. Die AfD ist gegründet worden, um unser Vaterland vor gigantischen Fehlentwicklungen zu bewahren, und ich sehe darin eine historische Aufgabe. In diesem Geist leiste ich meine Arbeit. Völkische Parolen in sozialen Medien, beleidigende Aussagen und Pöbeleien helfen dabei aber nicht. Und wer sein politisches Engagement darauf begründet, muß sich eine andere Partei suchen! Allerdings war von vornherein auch klar, daß es dem VS nicht allein um den Flügel geht, sondern, wenn möglich, darum, die ganze AfD zu beobachten. Dadurch entsteht, vom VS beabsichtigt, bei einigen Parteimitgliedern die Sorge, berufliche Nachteile zu riskieren. Diese Sorge wollen wir unseren Parteifreunden nehmen, indem wir aufklären und auch juristisch helfen. So bieten wir zum Beispiel allen Mitgliedern in NRW an, ein Auskunftsersuchen an die Landesregierung zu stellen, damit wir die Behauptung des Landesverfassungsschutzes, rund eintausend Mitglieder würden im Land beobachtet, widerlegen können.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Björn Höcke und Andreas Kalbitz, den Köpfen des Flügels? 

Lucassen: Beide Kollegen sind Fraktions- und Landesvorsitzende mit beneidenswerten parlamentarischen Erfolgen. Politisch ist unser Verhältnis kollegial und kooperativ. Auf persönlicher Ebene verstehe ich mich mit beiden sehr gut. Dissens hatten wir bei der Frage der Notwendigkeit und Berechtigung des Flügels und der Definition des typischen Flügel-Anhängers.

Wie unterscheidet sich der „typische Flügel-Anhänger“ von anderen Parteimitgliedern? 

Lucassen: Bei meinen vielen Wahlkampfauftritten im Osten habe ich eigentlich nie einen Unterschied zwischen einem „Flügler“ und einem engagierten AfD-Mitglied oder AfD-Sympathisanten erlebt. Meine politische Botschaft fand immer Resonanz, und es waren immer Veranstaltungen mit Wohlfühlcharakter. Ganz anders im Westen: Hier erlebe ich Parteimitglieder, die sich das Deckmäntelchen des Flügels umhängten, aber in Wirklichkeit, um mit Björn Höcke zu sprechen, völlig politikunfähig sind. Die sogenannten Flügler in NRW schufen sich eigene Strukturen, um sich mit aussichtsreichen Ämtern in lukrative Mandate zu hieven. Häufig erlebte ich, daß diese Emporstrebenden dabei treue und ehrliche Parteimitglieder für ihre Zwecke regelrecht mißbraucht haben.

Es gibt also Unterschiede zwischen dem Flügel in Mitteldeutschland und dem im Westen? 

Lucassen: In der „Erfurter Resolution“ von 2015 – einer Protestnote eines Teils der Basis gegen geplante parteiinnterne Reglementierungen des damaligen Bundesvorsitzenden Bernd Lucke – wurde unter anderem durch den Flügel zum Ausdruck gebracht, daß wir als AfD „demokratischer, patriotischer, mutiger“ sein wollen als die etablierten Parteien – das gilt heute mehr denn je! Es war aber von Anfang an ein Irrtum des Flügels, quasi sein Geburtsfehler, zu meinen, daß dies sein Alleinstellungsmerkmal sei. Unsere Landsleute im Osten haben eine andere Sozialisation und damit eine andere Motivation, sich für ihre Überzeugungen einzusetzen und notfalls auch auf die Straße zu gehen. Ich bewundere diese Haltung sehr. Im Westen sind diese „feinen Antennen“ für politische Defizite nicht so ausgeprägt. Und dieses gesellschaftspolitische Defizit bedeutete für die selbsternannten Flügler im Westen, weniger Resonanz erzeugen zu können – was sie durch Lautstärke, Kleinststrukturen und Vetternwirtschaft zu kompensieren versucht haben. 

Ihre Kritiker in NRW sehen das anders und werfen Ihnen eine skrupellose Säuberung des Landesverbands und die Installation von Befehlsempfängern vor. 

Lucassen: Das Gegenteil ist der Fall. Ich war 34 Jahre bei der Bundeswehr und elf Jahre Geschäftsführer einer Firma, bevor ich in den Bundestag kam. Nach 47 Jahren im Beruf weiß ich, wie wichtig es ist, im Team zu führen, um Erfolg zu haben. Wir arbeiten in unserem Landesvorstand sehr harmonisch und zielgerichtet. Die AfD ist beileibe keine „Führer-Partei“, wie beispielsweise die CDU. Dort werden Entscheidungen oben gefällt und unten kritiklos exeku-tiert. Wer das in der AfD versucht, scheitert gnadenlos an der Basis. Entscheidungen kommen bei uns demokratisch in den Parteigremien zustande. 

Parteichef Meuthen hatte vorgeschlagen, aus der AfD zwei Parteien zu machen. Auch um die VS-Beobachtung der ganzen Partei abzuwenden. Hatte die Idee nicht etwas für sich? 

Lucassen: Wir haben das in unserem Landesvorstand diskutiert und kamen zu unterschiedlichen Bewertungen. Ich kann Ihnen daher nur meine Auffassung wiedergeben. Nachdem der Bundesvorstand gerade einen Beschluß zur Auflösung der Parallelorganisation des Flügel gefaßt hatte, überraschte dieser Vorstoß des Bundessprechers. Ich hätte Herrn Meuthen empfohlen, solche durchaus berechtigten „strategischen Überlegungen“ ausgelagerten Gremien oder Denkfabriken zu überlassen. Das hätte dann auch Raum für Diskussion gelassen, die ihm durch sein einsames Vorgehen genommen waren. Außerdem habe ich inhaltlich eine andere Auffassung: Ich glaube nicht, daß es genug Spielraum für zwei rechte Parteien auf dem „Politikmarkt Deutschland“ gibt. Es würde nicht zu einvernehmlichem Miteinander, sondern zu einem ruinösen Wettbewerb kommen. Insofern war es eine kluge Entscheidung des Bundesvorstands, das Thema für beendet zu erklären.

Ehemalige Flügler haben nun den Verein „Konservativ e.V.“ gegründet. Kommt der Flügel in anderer Form zurück? 

Lucassen: Es gibt zumindest in unserem Landesverband nur einzelne Versprengte, die diese Initiative oder Vergleichbares unterstützen. Es handelt sich dabei um Leute, die in Kleingruppen eine Identität suchen und offensichtlich mit den offiziellen Strukturen einer Landespartei mit 5.700 Mitgliedern nicht zurechtkommen. Ihnen erscheint es zu komplex, sich in einer Partei dieser Größe für ein Amt oder ein Mandat zu bewerben. Deswegen suchen sie „Familienstrukturen“, von denen sie getragen werden. Es muß die Aufgabe meines Landesvorstands sein, diesen Parteifreunden in unserer Gesamt-NRW-Partei eine organisatorische und politische Heimat zu geben. 

Die AfD ist in den Umfragen auf zehn Prozent gesunken. Es heißt, sie biete keine Konzepte in der Corona-Krise. War es das schon mit dem Erfolg?

Lucassen: Keineswegs. Wir verzeichnen eine Delle, aber keinen Einbruch. Die Corona-Krise – ob nun hausgemacht, politisch überbewertet oder eine ernstzunehmende Pandemie – ist die Stunde der Regierenden. Da gibt es jeden Tag Sondersendungen in den Öffentlich-Rechtlichen, da tagt Frau Merkel mit ihrem Corona-Kabinett, und da nimmt Herr Söder persönlich Gesichtsmasken am Flughafen in Empfang. Selbstverständliches wird da schnell zur Heldentat. Die AfD-Bundestagsfraktion macht genau das Richtige und erarbeitet Leitlinien für die Post-Corona-Zeit. 

Welche Folgen wird die Krise haben und welche Antworten hat die AfD darauf?

Lucassen: Die wirtschafts- und finanzpolitischen Auswirkungen werden immens sein. Die Folgen der Vergemeinschaftung von Schulden im internationalen Bereich, aber auch der Schulden zum Ausgleich der unterschiedlichen sozialen Schichten in Deutschland sind zur Zeit noch nicht absehbar. Ich glaube, daß die Bundesregierung die Vergemeinschaftung der EU-Schulden, Stichwort Corona-Bonds, trotz ihrer gegenteiligen Beteuerungen derzeit, letztlich nicht verhindern wird. Die Programmatik der AfD zeigt bereits seit 2013 die Lösung auf: Renationalisierung, Erhalt und Rückgewinnung von Schlüsseltechnologien, wirksamer Bevölkerungsschutz, nationale Währungsstabilität – um nur einige zu nennen. 

2021 wird ein „Superwahljahr“ – sechs Landtagswahlen und die Bundestagswahl. Mit welcher Strategie will die AfD antreten?

Lucassen: Ich sehe eine Doppelstrategie. Zum einen als Organisation und zum anderen als Bewegung. Die Organisation wird professionell aufgestellt, frei von hinderlichen Verfilzungen und kleinkarierten Strukturen sein. Hier haben der Bundesvorstand und die meisten Landesverbände einen guten Weg eingeschlagen. Auf der Basis dieser schlagkräftigen Organisation wird sich eine politisch mutige, heimatliebende und den Menschen und Völkern zugewandte Bewegung etablieren, die unserem Vaterland wieder Zuversicht und Hoffnung bietet. Die gelähmten Regierungs- und die moralisierenden anderen Oppositionsparteien bringen die Kraft für eine überzeugende Realpolitik nicht mehr auf. Das schafft nur die AfD.

In der AfD wurde auch immer über eine mögliche Regierungsbeteiligung gestritten. Die einen wollen so früh wie möglich mitregieren, die anderen warnen vor einer „Unterwerfung“ gegenüber den Altparteien. Wo stehen Sie in dieser Frage?

Lucassen: Seit zweieinhalb Jahren erlebe ich die Politik der Regierungskoalition in Berlin. Ein „Mitregieren“ mit diesen Parteien in ihrer derzeitigen unakzeptablen Verfaßtheit betrachtete ich als Verrat an unseren Idealen. So sehr Deutschland uns braucht, kommt eine Koalition für mich nur in Frage, wenn wir der Seniorpartner sind oder ein Koalitionsvertrag unsere deutliche Hand-schrift trägt. Darunter geht nichts.






Rüdiger Lucassen, der Oberst im Generalstab a.D., Unternehmer und Bundestagsabgeordnete führt seit 2019 die AfD in NRW. 2006 nahm der Heeresflieger, der etwa im Verteidigungsministerium, bei der Nato in Brüssel und im Kölner Heeresamt diente, seinen Abschied und gründete die Firma pro-ades. Er ist verteidigungspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion und Obmann im Verteidigungsausschuß. Geboren wurde er 1951 in Dollerupholz an der Flensburger Förde. 

Foto: AfD-Kundgebung 2019 bei Berlin (mit den Flügel-Politikern Björn Höcke und Andreas Kalbitz): „Wir sind ‘eine‘ Partei und jene, die Affinität zum Flügel verspürten, gehören, bis auf wenige Ausnahmen, unverändert zu uns ... (und) es ist klar, daß es dem Verfassungsschutz nicht allein um den Flügel geht, sondern darum, wenn möglich, die ganze AfD zu beobachten“

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