© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Langsam mal locker machen
Corona-Maßnahmen: Wie die Politik über den Einstieg in den Ausstieg streitet
Jörg Kürschner

Wenige Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie gewährte Angela Merkel einen seltenen Einblick in die Beweggründe ihres Regierungshandelns seit nunmehr fast 15 Jahren im Kanzleramt. „Ich muß die Dinge verstanden haben, bevor ich entscheide. Ich habe stets versucht, möglichst wenige meiner politischen Entscheidungen komplett umwerfen zu müssen“, sagte die CDU-Politikerin. Beim Ausstieg aus der Kernenergie sei dies erforderlich gewesen. Und sie fügte hinzu: „Bevor ich nicht sicher bin, daß eine Entscheidung auch nach drei Tagen noch haltbar bleibt, spreche ich sie nicht aus“.

Von ihrem zurückhaltenden Stil des Regierens läßt sich die Dauerkanzlerin auch in der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg leiten, als die sie die Pandemie kürzlich bezeichnet hat. Kurz vor Ostern sprach Merkel von einem Hoffnungsschimmer angesichts zurückgehender Zahlen bei neugemeldeten Infektionen. „Wir dürfen jetzt nicht leichtsinnig sein“, mahnte sie, wohl in der sicheren Erwartung, daß spätestens am Ostersonntag die Diskussion über erste Lockerungen der strengen Schutzmaßnahmen beginnen würde.

Und so war es dann auch. Wenige Tage vor der für Mittwoch angesetzten Videokonferenz Merkels mit den 16 Ministerpräsidenten gefielen sich diese in einem Überbietungswettbewerb in Sachen Exit-Strategie. Besonders schwer fiel es Nordrhein-Westfalens Regierungschef Armin Laschet, die Füße stillzuhalten. Der umtriebige Bewerber für den CDU-Vorsitz (und damit für die Kanzlerkandidatur) hatte gar einen Expertenrat eingesetzt, der eine behutsame Öffnung von Schulen und Universitäten vorgeschlagen hat. Derart gestärkt, wählte Laschet das Forum einer Fernsehansprache, um einen Ausstiegsfahrplan zu fordern, „der uns den Weg in eine verantwortungsvolle Normalität zeigt“. Laschets Kandidat für den CDU-Vize, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, hielt eine „schrittweise Rückkehr zur Normalität“ nach den Osterferien für geboten. Hektisches Krisenmanagement, das deren Beliebtheitswerte allerdings nicht steigern konnte. Schlappe sieben bis acht Prozent der Befragten wünschten sich Laschet oder Spahn als Merkel-Nachfolger. 

Mit 27 Prozent unangefochten an der Spitze liegt dagegen Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der mehrfach eine Kanzlerkandidatur abgelehnt hatte. Der CSU-Chef liegt eher auf Merkels Linie. Vor der Videokonferenz warnte er vor dem „Überbietungswettbewerb“, denn „Maß und Mitte“ seien gefragt.

Verfassungsrichter heben Ablaufdatum hervor

Bei soviel Unionsaktivitäten war der Koalitionspartner SPD medial ein wenig ins Hintertreffen geraten, was die rheinland-pfälzische Regierungschefin Malu Dreyer nicht ruhen ließ. Die SPD-Ministerpräsidenten wollten mögliche Lockerungen der Corona-Regeln an eine Reihe von Indikatoren knüpfen, kündigte sie an. Dazu gehörten eine niedrige Rate der Neuansteckungen, eine ausreichende Kapazität des Gesundheitssystems sowie eine Ausweitung von Tests und genügend Schutzausrüstung. Merkel hingegen blieb bei ihrer Linie, vermied jede Stellungnahme vor den Verhandlungen mit den Ministerpräsidenten. Immerhin, als „eine sehr wichtige Studie“ hatte sie vor Ostern die zu Wochenbeginn veröffentlichte Expertise der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, bezeichnet. Ein Fingerzeig? Diese empfiehlt eine baldige schrittweise Öffnung der Grundschulen und der Sekundarstufe I.

Zu beobachten war in der fünften Woche der Schutzmaßnahmen auch ein sich verstärkendes Mißtrauen über die Dauer der nie erlebten massiven Einschränkung der Grundrechte. Die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit, die Religionsfreiheit sind erheblich eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt.

Am Karfreitag hatte das Bundesverfassungsgericht den Eilantrag eines praktizierenden Katholiken gegen das Gottesdienstverbot an Ostern zwar mit der Begründung abgelehnt, das gesundheitliche Risiko sei zu groß. Doch zugleich stellten die Karlsruher Richter klar, daß die Grundrechtseinschränkungen ein Ablaufdatum haben müssen. Was wiederum Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) auf den Plan rief. Die Grundrechtseinschränkungen seien angesichts der gesundheitlichen Bedrohung verhältnismäßig, doch versprach sie, „daß wir die vollen Freiheiten, die unseren demokratischen Rechtsstaat auszeichnen, so schnell wie irgend möglich wiedererlangen können“. Der Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek argumentiert, je länger Freiheitseinschränkungen dauerten, desto größer werde die „Rechtfertigungslast“ für den Staat. Der Ausnahmezustand, der alle Menschen treffe, müsse „innerhalb weniger Tage“ beendet werden, indem für Risikogruppen, also für ältere Menschen mit Vorerkrankungen, besondere Schutzmaßnahmen getroffen werden.

Die AfD nutzte eine Sondersitzung ihrer Bundestagsfraktion, um mit einem „Positionspapier Corona-Krise“  inhaltlich Flagge zu zeigen und zugleich von den Führungsquerelen ihrer Parteispitze abzulenken. Auch sie fordert ein rasche Ende des Ausnahmezustandes, legt den Fokus auf die verheerenden wirtschaftlichen Schäden. Geschäfte, Dienstleistungs-, Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe, aber auch religiöse Einrichtungen müßten generell wiedereröffnet werden können „unter der Voraussetzung von Einlaßbeschränkungen“.

Der gravierende Eingriff in die Grundrechte der Bürger sei unverhältnismäßig, betonte Fraktionsvizin Beatrix von Storch. Zudem stellten die einschneidenden Maßnahmen für die Wirtschaft langfristig eine größere Bedrohung dar als das Virus selbst.