© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Entstaubte „Männerphantasien“ im „Geschlechterkampf“
Naive Reduktionen
(ob)

Als 1978 bei „Roter Stern“, einem Verlag linker Subkultur, die dicken Bände von Klaus Theweleits „Männerphantasien“ herauskamen, brach das westdeutsche Feuilleton in einhelligen Jubel aus. Rudolf Augstein feierte diese als Dissertation eingereichte „Psychoanalyse des weißen Terrors“ in einer üppigen Spiegel-Rezension ab. Rasch galt diese Deutung der „Freikorps“-Literatur der 1920er und 1930er als Schlüsseltext, der mit Verständnis des „faschistischen Bewußtseins“ den Verlauf der deutschen Geschichte zwischen 1871 und 1945 auf eine griffige Formel zu bringen schien. Demnach hätten, wie Theweleit aus der US-amerikanischen Säuglings- und Kleinkind-forschung ableitete, frühkindliche Bindungsstörungen das hohe Aggressionspotential der nach 1870 geborenen „soldatischen Männer“ verursacht. Obwohl die Kritik Theweleits „Kultbuch“ bald entzauberte und seinen naiven Reduktionismus angriff, der Sozialgeschichte durch Psychoanalyse ersetzte und der weder ähnliche Gewaltdispositionen „bolschewistischer Männer“ noch „antisemitische Affekte“ erklärte, wird die 2019 erschienene Neuausgabe seit Monaten wie einst als Offenbarung im nun eskalierten „Geschlechterkampf“ gepriesen. So begeistert sich auch die Baseler Germanistin Carolin Amlinger über das angeblich „Grundmuster konservativen Denkens“ entlarvende Werk, weil es im Kampf gegen den „Rechtspopulismus“ und die sich im Netz formierende „Männerbewegung“ helfe (Merkur, 3/2020). Daß es heute eher Aufschlüsse über die von frühen, schweren Bindungsstörungen geprägten Psychogramme gewaltaffiner muslimischer Männer geben könnte, kommt Amlinger nicht in den Sinn. 


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