© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Dorn im Auge
Christian Dorn

Corona setzt dem Sozialleben die Krone auf – jedenfalls steigt die häusliche Gewalt signifikant. So sollen sich allein in China die Hilferufe von Frauen verdreifacht haben. In Berlin dagegen zeigt sich im Straßenleben die Einfallslosigkeit der heutigen Eltern-Generation. So sagt der Vater zu seinem Sohn sichtlich ratlos: „Wollen wir jetzt rechts um den Block oder links um den Block laufen? Rechts sind wir letztens schon gelaufen.“ Bezeichnenderweise spielt sich diese Szene im „LSD-Viertel“ ab – so genannt, da der Helmholtzplatz von der Lychener, Schliemann- und Dunckerstraße begrenzt und durchquert wird. Dabei könnten die Eltern ihren Kindern von der Bedeutung des Namensgebers Hermann von Helmholtz (1821–1894) erzählen, der als Universalgelehrter und „Reichskanzler der Physik“ für bahnbrechende Erfindungen und Weiterentwicklungen sorgte. Gerade für die in dieser Gegend heimische „Fridays for Future“-Gemeinschaft wäre die Beschäftigung mit dem wissenschaftlichen Begründer der Meteorologie ein sinnvoller Nachhilfeunterricht in den eigenen vier Wänden. Schließlich übt sich Deutschland derzeit als Stubenhocker. Auch für die aktuelle AfD-Führung wäre eine Beschäftigung mit Helmholtz ratsam, immerhin gelangte dieser mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten über Gärung und Fäulnis zur Ausformulierung des Energieerhaltungssatzes. Dann könnte das gegenwärtige Dilemma (zum Beispiel: „Jetzt haben wir den Flügel-Salat!“) vielleicht doch noch adäquat gelöst werden. 


Doch zurück zum LSD-Viertel: Stunden später an selber Stelle lamentiert ein Junkie, an der Leine einen frohgemuten zotteligen Straßenköter, mit einer Passantin über die aktuelle Situation des Shutdowns, der dafür sorgt, daß er sich keinen Schuß mehr setzen kann. Er verabschiedet sich jammernd mit dem wiederholt vorgetragenen Bekenntnis: „Aber am schlimmsten ist, daß ich jetzt seit Wochen nicht mehr drücken gehen kann.“ Schließlich endet er mit den Worten: „Aber es ist gut, daß ich es immerhin bis heute geschafft habe.“ Wer sagt’s denn? Wir schaffen das! Da er bereits auf den Hund gekommen ist, verkneife ich mir die Bemerkung zu Merkels Mantra. 


Anderntags stoße ich in der als „Casting-Allee“ verschrienen Kastanienallee auf die von der Corona-Pandemie betroffenen „aussätzigen“ Bücher, darunter ein Taschenbuch zur RTL-Comedy-Serie „Kentucky Schreit Ficken“ aus den Neunzigern. Inspiriert von dieser Sprachspielerei, verstehe ich im Gespräch mit meiner Mutter nur noch „Greisbrei“ und „Altenpfeilchen“.