© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Freiräume für Anspielungen
Gewiß keine Kulturwüste: Theater im Dritten Reich / Fortsetzung der JF-Serie zur Inneren Emigration
Günter Scholdt

Wer sich auch bei vermeintlich Gebildeten, die in den letzten 30 Jahren deutsche (Hoch-)Schulen durchliefen, nach dem Theater im Dritten Reich erkundigt, hört Stichworte wie „Propagandaphrasen“, „Zensur“ oder „konformistische Langeweile“. Auch beim Namen Gustaf Gründgens fällt den meisten (im Tenor des „Mephisto“-Romans bzw. -Films) eher Despektierliches ein. Viele Bescheidwisser stellen sich damalige Bühnen ausschließlich als Orte penetranter Ideologisierung vor, auf denen Bauerntum, rassereine Volksgemeinschaft, Krieg und Eroberung gefeiert oder in Thing-Theatern Germanen-Nostalgien ausgelebt wurden. Und in den Dramen unterwarfen sich gebärfreudige Maiden heroischen Pfauen. 

Die Erlebnisgeneration bestritt solche Klischees und schwärmte zuweilen gar von großen Theatererlebnissen, was sie bei nachgeborenen Erinnerungswarten schon fast einem fatalen Nostalgieverdacht aussetzte. So formulierte etwa der Deutsche Bühnenverein mit denunziatorischem Unterton: „Es läßt sich ebensowenig wegdiskutieren wie Auschwitz, daß deutsches Theater und deutsches Drama mit der Zäsur des Jahres 1933 zerstört wurden.“ Und eine DDR-Theatergeschichte dekretierte, die „gelegentlich geäußerte These von der Glanz-Zeit des ‘Göring-Theaters’“ sei eine „bewußte Lüge“. 

Nun gibt es immerhin Kenner der Epoche, die solche Plakativität nicht teilen. Aber fast alle Fachpublikationen grundiert ein volksdidaktischer Zug, der sich mehr für Moralurteile und Ideologiekritik interessiert als für die Entdeckung bemerkenswerter Stücke und das keineswegs so Uniforme dieser Theaterlandschaft. Den Blick dominiert jedoch mehrheitlich der große Aderlaß Tausender ins Exil gezwungener Autoren, Regisseure und Schauspieler, darunter so bedeutende wie Brecht, Zuckmayer, Max Reinhardt, Erwin Piscator, Elisabeth Bergner, Therese Giese und viele andere.

Rigorose Eingriffe der NS-Zensur

Auch die mächtige Zensur gilt als Hemmnis für Qualität und Kreativität. Und in der Tat fehlt es nicht an rigorosen wie grotesken Beispielen derartiger Eingriffe. Vor gänzlicher Strangulierung bewahrte immerhin der Umstand, daß sich mehrere Zensurinstanzen (darunter der Goebbels unterstellte Reichsdramaturg Rainer Schlösser, die Deutsche Arbeitsfront, das Amt Rosenberg und Göring als Herr über alle Staats- und Stadttheater Preußens sowie andere mächtige Gauleiter) durch Rivalität teils neutralisierten. Das schuf für findige Kunstbeflissene immer wieder mal Nischen.

Was zudem die rückblickende Defizitbilanz bestimmt, sind aktuelle Wertungskriterien. Danach figuriert Weimars Theater respektive Dramaturgie, genauer: seine bis heute kopierte Schock- und Grotesk-Ästhetik eines – didaktisch zuweilen überbordenden – politischen Engagements sozusagen als Norm. Forciertes Zeittheater stand ab 1933 jedoch nur mehr NS-Autoren zur Verfügung, von Hanns Johst („Schlageter“) über Richard Euringer („Deutsche Passion“) bis Gerhard Schumann („Entscheidung“). Und auch, wo zuweilen ein offeneres Theater geboten wurde, half in der Regel gerade die Nähe zur NSDAP oder deren Repräsentanten. 

Dies galt exemplarisch für Hans Rehbergs 1944 uraufgeführte U-Boot-Tragödie „Die Wölfe“, die mehr als ein Durchhaltestück war. Am Schluß fallen sogar die Sätze: „Wie grausam ist doch das, was du vom Vaterlande weißt. Du opferst, ohne dich umzusehen, dich und die anderen. Welch Untier, Robert, ist dein Vaterland.“ Das ging gewiß an die Grenze des Sagbaren. Weniger anstößig waren Theatererfolge von Walter Erich Schäfer. In „Schwarzmann und die Magd“ (1933) schilderte er eine ländliche Tragödie mit Kindsmord, in „Der Leutnant Rougier“ (Uraufführung 1940) verhilft ein deutscher Offizier einem 1917 wegen vermeintlicher Feigheit exekutierten französischen Leutnant zur postumen Rehabilitierung. 

Wo allerdings frühere Linkssympathien der Verfasser ruchbar wurden, machte man kurzen Prozeß. Die (noch dazu Grenzpolizisten verulkende) Schmugglerkomödie „Warum lacht Frau Balsam?“ von Günther Weisenborn und Richard Huelsenbeck wurde nach Zuschauerprotesten 1933 schnellstens abgesetzt. Desgleichen Georg Kaisers und Kurt Weills von drei Theatern gespielte sozialkritische Oper „Der Silbersee“, obwohl sie im Märchenhaften endete.

Das gleiche Schicksal ereilte Ilse Langners feministische Komödie „Amazonen“, deren Pro- wie Epilog in der Gegenwart spielt. Hier störten nichtgenehme Assoziationen zur Tagespolitik beziehungsweise zur großstädtischen Lesbenszene. Ödön von Horváths fälschlich als bloßes Nebenwerk verkannte Drama „Don Juan kommt aus dem Krieg“ bekam 1936 ebenso keine Aufführungschance wie Hans Henny Jahnns „Armut, Reichtum, Mensch und Tier“, obwohl es nicht in Deutschland spielt. 

Was also spricht bei so ungünstigen Rahmenbedingungen dennoch für eine gewisse Theaterblüte? Zunächst einmal, was Hans Daiber hervorhob: „Nie vorher, nie nachher hat es in Deutschland eine dem Theater so aufgeschlossene Regierung gegeben wie im Dritten Reich.“ Dies äußerte sich durch eine opulente Ausstattung vieler Theater, deren Beschäftigtenzahlen sich zwischen 1933 und 1941 von 22.000 auf 44.000 verdoppelten, durch üppige Gagen für die Schauspielprominenz und deren häufige Aufnahme in die „Gottbegnadetenliste“, die ihnen Waffendienst ersparte. Auch die Zuschauer zogen mit. Besonders die jugendlichen Besucherzahlen verdreifachten sich mindestens.

Der Zwangsexodus vieler Theaterschaffender war ohne Zweifel ein gewaltiger Verlust. Zugleich aber rückten andere Könner in den Fokus. Zudem gab es für anpassungsbereite früher oppositionelle, homosexuelle oder manche jüdische wie „jüdisch versippte“ Schauspieler Ausnahmeregelungen, die insgesamt in die Tausende gingen. Mustern wir also unter den Daheimgebliebenen so klingende Namen wie Gustaf Gründgens, Heinz Hilpert, Jürgen Fehling, Otto Falckenberg, Karl Heinz Stroux, Lothar Müthel, Fritz Kortner oder Saladin Schmitt als Regisseure, Bühnenbildner wie Teo Otto oder Caspar Neher und Schauspieler wie Heinrich George, Bernhard Minetti, Emil Jannings, Werner Krauß, Horst Caspar, O.E. Hasse, Will Quadflieg, Marianne Hoppe, Grete Weiser, Paula Wessely, Brigitte Horney, Käthe Gold, Elisabeth Flickenschildt usw., spricht wenig für künstlerisches Mittelmaß. Und als Folge ergab sich, daß Deutschland wohl nie zuvor oder danach eine solche Dichte an hochkarätigen (vom Zeitgeist nicht ruinierten) Klassikeraufführungen verzeichnete.

Diese Feststellung signiert keinen Persilschein für Bilderbuchhelden fernab von NS-Verstrickung, sondern würdigt Glanzleistungen von kunstbewußten Regisseuren oder Dramatikern. Durch welche sonstigen Konzessionen sie erkauft wurden in einem zuweilen prekären Geben und Nehmen, steht auf einem andern Blatt. Allerdings sollte uns die flächendeckende Konformität heutiger „Kulturschaffender“ unter Bedingungen, die nicht den Kopf kosten, vor wohlfeilem Moralismus bewahren.

Das leichte Genre wurde großzügiger begutachtet

Einige Regisseure, allen voran Fehling und Gründgens, sie mochten sich in Logen und mit Sektgläsern bei den Politgewaltigen tummeln, nutzten immerhin die dabei gewonnenen Spielräume und leisteten sich – bei strikter Texttreue – zuweilen geradezu tollkühne aktuelle Anspielungen. Exemplarisch hier für stehen die Inszenierungen von „Richard III.“, „Hamlet“, „Antigone“ oder „Othello“. Sie korrespondierten mit einem hellhörigen Publikum, das auch Nuancen registrierte und etwa bei Schillers „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“ frenetisch applaudierte. In Wiener Theatern geschah Vergleichbares beim Stichwort „Österreich“.

Zeitgenössische Dramatiker mit subversiven Botschaften wichen auf weniger kontrollierte Problemfelder aus: auf das Historienstück im Sinne eines „Zeitparallelentheaters“, auf Mythenstoffe oder Lustspiele, die großzügiger begutachtet wurden. Besonders im leichten Genre unterlief sogar etliche Konterbande die Zensur: subtile Militarismus-Kritik etwa, veraltete Geschlechterrollen, ja sogar Rassenormen, zum Beispiel in Hans Hömbergs Südseeidylle „Minnifie“.

Bilanzieren wir: Neben Gerhart Hauptmanns großem Alterswerk spielte man damals Routiniers des Boulevardtheaters wie Curt Goetz, Heinrich Spoerl und sogar Erich Kästner. Hinzu kamen Talente wie Hans Hömberg, Karl Zuchardt, Walter Gilbricht, Richard Billinger, Albrecht Haushofer, Hans Rehberg, W. E. Schäfer, Willi Schäferdiek, und per Stipvisiten Günther Weisenborn und Ilse Langner. Das bot Etliches von Niveau für knapp sieben Friedens- und fast fünf Kriegsjahre, auch im Vergleich zum Exil. Denn dort schuf Brecht zwar das Gros seiner Klassiker, Zuckmayer das grandiose Drama „Des Teufels General“ oder Werfel seine Meisterkomödie „Jacobowsky und der Oberst“. Darüber hinaus jedoch beschränkt sich der nennenswerte Ertrag auf eine Handvoll kämpferischer Stücke von Friedrich Wolf, Ferdinand Bruckner oder die langsam ausgeschriebenen Toller und Horváth. Grund genug, sich bei den innerdeutschen Dichtern etwas länger umzusehen, was in den künftigen Folgen geschieht.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.