© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Großväterchen gerät langsam in Vergessenheit
Zum 150. Geburtstag des russischen Revolutionsführers Wladimir Iljitsch Lenin: Neues zur Familiengeschichte
Jürgen W. Schmidt

Die Masse der Lenin-Denkmäler in Rußland ist abgebaut, die vielen Lenin-Gedächtnismuseen sind verschwunden und selbst Lenin-Alleen gibt es immer weniger. Trotzdem lief in Rußland nach dem jähen Ende der Sowjetunion eine intensive historische Forschung zu Lenin an und zeitigte bislang eine Reihe erstaunlicher Ergebnisse, welche den russischen Vordenker  der Weltrevolution und zugleich besten Freund aller sowjetischen Kinder, das „Großväterchen“ Wladimir Uljanow alias „Lenin“ in einem häufig unerwarteten, mitunter sogar recht negativen Licht zeigen.    

Damit ist weniger gemeint, daß Lenin alias „Wladimir Iljitsch Uljanow“ wahrscheinlich nicht am 22. April 1870, sondern erst am 23. April 1870 in Simbirsk (seit 1924 deswegen umbenannt in „Uljanowsk“) als Sohn eines sehr hohen russischen Staatsbeamten und Erbadeligen geboren wurde. Lenin, der zu Zeiten seiner europäischen Emigration von 1899 bis 1917 auch eine Zeitlang in Deutschland lebte, machte sich diesen Umstand geschickt zunutze, indem er sich im obrigkeitshörigen Kaiserreich durch pompöse Visitenkarten mit der Aufschrift „Wladimir von Uljanow – Schriftsteller“ auswies. 

Geprägt und zwar zeitlebens wurde der junge Uljanow hingegen durch den Tod seines älteren Bruders Alexander, welcher 1887 in der Festung Schlüsselburg als Zarenattentäter gehängt wurde. Seit dieser Zeit herrschte Krieg im Verhältnis von Lenin zur Zarenfamilie und deren spätere Ermordung in Jekaterinburg 1918 läßt sich letztlich und sehr maßgeblich auf diesen Umstand rückführen, wie der Lenin-Biograph Jew-geni Danilow 2007 nachgewiesen hat. 

Reiche Familie erlaubte Lenin Leben als Privatier

Der beste Freund aller Proletarier kam zudem aus einer keineswegs armen russischen Familie. Wenngleich die Familie des „Wirklichen Staatsrates“ Ilja Uljanow nicht zu den unermeßlich reichen Magnaten gehörte, so gab es doch wenigstens zwei Dörfer mit erheblichem Bodenumfang im Familienbesitz sowie Häuser, ererbte Gelder und Aktienfonds. Auch bezog Lenins Mutter nach dem Tod ihres Mannes eine üppige Beamtenwitwenpension, von welcher der emigrierte Sohn Wladimir in der Emigration keineswegs ärmlich lebte. Denn Lenin hielt es ähnlich wie Karl Marx, beide gingen keiner Erwerbstätigkeit nach und lebten als „Privatgelehrte“. 

Lenin nebst seiner Frau Nadeschda Krupskaja beschäftigten im Ausland häusliches Dienstpersonal, wenn sich nicht Schwiegermutter Krupskaja dem Haushalt widmete. Lenins Gattin stand nämlich im Ruf, keinen Topf Wasser kochen zu können, ohne daß dieser dabei anbrannte. Der Parteiname von Lenins Gattin war übrigens „Fisch“ (Ryba), was wohl auf eine gewisse Gefühlskälte hindeutet. Als ihr Gatte 1924 verstorben war, berichtete sie seltsam unbeteiligt engen Bekannten in einem Brief ausführlich über das Wetter am Beerdigungstag, welches gemäß ihrer Schilderung sehr kalt gewesen war. Ansonsten drückte sie im Brief die Hoffnung aus, daß anläßlich des Begräbnisses von Lenin das gestörte Verhältnis von Regierung und Volk wieder enger werden würde und hoffentlich zum Aufschwung der revolutionären Stimmung beitrage. 

Ähnlich unpathetisch hätte sich übrigens wahrscheinlich auch Lenin im Falle des Todes seiner Gattin geäußert. Lenin zeigte als erwachsener Mann kaum Gefühle, und nur Ende 1920 anläßlich des Begräbnisses seiner Freundin Inessa Armand sah man ihn öffentlich nahezu gebrochen und niedergeschlagen. Armand war nicht nur Lenins geistige Freundin, sondern gemäß neuester Forschungen auch seine zeitweilige Geliebte. Tatsächlich konnte sich die reizlose, dazu noch an der Basedow-Krankheit leidende Lenin-Gattin Krupskaja wirklich nicht mit der attraktiven Inessa Armand vergleichen, weshalb sie ihrem Gatten den ihr bekannten Seitensprung durchgehen ließ. 

Gewisses Aufsehen erregte es allerdings im heutigen Rußland, als nach 1990 lange geheimgehaltene Ergebnisse der Forschung zu Lenins Ahnen bekannt wurden. In der Familie Uljanow gab es zwar Legenden über eine angeblich schwedische Herkunft, welche sich jedoch nicht bestätigten. Weil Lenin in seiner Arbeitsweise ein Genauigkeitshuber war, der auf Pünktlichkeit und Akkuratesse größten Wert legte, schrieb man dies lange Zeit der angeblich deutschen Herkunft von Lenins Mutter zu, welche den Mädchennamen „Blank“ trug. Doch war gemäß neuerer Forschungen Lenins Großvater mütterlicherseits kein Deutscher namens „Alexander Blank“, sondern vielmehr der um 1820 im Gouvernement Wolhynien geborene Russe jüdischer Herkunft Israel Blank, der sich anläßlich seines Hochschulstudiums in Petersburg zum orthodoxen Glauben bekehren, taufen und in „Alexander“ umbenennen ließ.

Auch zur Entwicklung von Lenins Revolutionstheorie gab es Neues zu erfahren. Während Lenin bis 1905 der Marxschen Lehre anhing, daß die sozialistische Revolution nur in einem Land mit überwiegend proletarischer Bevölkerung gelingen könne, änderten sich Lenins Auffassungen ab 1906 dahin, daß er Rußland die Rolle eines „Zünders“ der Weltrevolution zuschrieb. Dabei schwebte Lenin der kurzlebige Staat der Pariser Kommune als historisches Exempel für eine durch Arbeiter geführte Revolutionsregierung vor. Im August 1917 behauptete Lenin unter direktem Bezug auf die Pariser Kommune: „Höheres, Besseres als diesen Typ der Regierung, als einen Rat von Arbeitern, Landarbeitern, Bauern und soldatischen Deputierten, hat die Menschheit bislang nicht hervor gebracht und haben wir bislang Besseres nicht gekannt.“ Die Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis 1991 hat den Unwert dieser Leninschen Behauptung schlagend bewiesen. Das erkennen die Russen, welchen man einst Lenin als den klügsten Denker des 20. Jahrhunderts propagierte, mittlerweile an und vergessen ihn verdientermaßen.