© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/20 / 17. April 2020

Völlig unterschiedliche Bewertungen
Sowjetische und polnische Kriegsverbechen in Ostsachsen 1945 und ihre Rezeption im Vergleich zum deutschen Unrecht
Paul Leonhard

Mord verjährt nicht. Deswegen erschienen 2008 bei dem im westfälischen Balve lebenden Reinhard Holewa Beamte des Landes-kriminalamtes Dresden. Holewa hatte als Angehöriger des Jungvolkes im April 1945 die Kämpfe um Bautzen miterlebt und seine Erlebnisse unter dem Titel „Der verdammte Krieg“ veröffentlicht. Jetzt sollte er als Zeuge gehört werden. Es ging um die Erschießung von 18 Sowjetsoldaten in der Bautzener Ortenburg, die Erschießung eines Verwundeten und eines gefangenen Sowjetsoldaten. Von diesen Morden hatte der Berliner Richter Theodor Seidel in seinem 2001 erschienenen Buch „Kriegsverbrechen in Ostsachsen“ berichtet. Auch weist Seidel die willkürliche Ermordung von mehr als tausend Zivilisten und 621 deutschen Kriegsgefangenen allein für den Zeitraum vom 16. April bis 9. Mai nach.

Deutsche Opfer interessiert die für Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen zuständige Staatsanwaltschaft Ludwigsdorf aber nicht. Auch andere Staatsanwälte verzichten hinsichtlich dieser Opfergruppe auf Nachforschungen. Mit einer Ausnahme: Ebenfalls im Herbst 2008 ermittelte die Staatsanwaltschaft Potsdam gegen unbekannte Angehörige der Roten Armee wegen „Mordes zum Nachteil deutscher Zivilpersonen in einer Vielzahl von Fällen“.

Gesetzlich geschützt sind nur Gräber der „Befreier“

Am Nachmittag des 23. April 1945 hatte die Rote Armee Treuenbrietzen zurückerobert. Wenig später erschossen Soldaten die in der Stadt verbliebenen Männer. Zur Aufklärung dieses Kriegsverbrechens wurde die Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation um Rechtshilfe gebeten, das Verfahren jedoch wenig später eingestellt: Deutsche Gerichte sind für Kriegsverbrechen der alliierten Streitkräfte nicht zuständig.

Straflosigkeit also für all jene Verbrechen, die Seidel in seinem Buch auflistet: Erschlagene, erschossene, erstickte, erstochene, verbrannte, erhängte deutsche Zivilisten. Gesetzlich geschützt sind lediglich die Gräber und Ehrenmale ihrer Mörder, denen an jedem 8. Mai Politiker für die „Befreiung“ mit Kränzen danken. 

Das Schicksal der hingemeuchelten Deutschen verbirgt sich mancherorts in Kirchenbüchern und Ortschroniken. So berichtet Pfarrer Gerd Frey in der Chronik von Gaußig von dem 82jährigen Ernst Emil Held, der am 9. Mai auf seinem Hof in Weißnaußlitz ermordet wurde, weil er einen defekten Traktor nicht reparieren konnte. In Weißnaußlitz wurde eine Flüchtlingsfrau von polnischen Soldaten erschossen, in Kleebusch eine 64jährige aus Bautzen. Am 12. Mai wurden in Gnaschwitz der Bauer Martin Held, der Finanzbeamte Richard Michel und der Maschinenbauer Hermann Lehmann von Polen erschossen. Die 52jährige Martha Emma Thräne, Gastwirtsehefrau in Spittwitz, erschossen Russen am 27. Mai. Die Täter können zwar nicht namentlich benannt, aber zugeordnet werden: Sie gehören – neben der 52. sowjetischen Armee – zu der erst im Januar 1945 aufgestellten 2. polnischen Armee. Die insgesamt 89.000 Mann begannen ab dem 16. April Ostsachsen zu besetzen.

Augenzeugenberichte über die mit äußerster Brutalität geführten Kämpfe gibt es nur wenige. Soldaten berichteten, daß sie in Bautzen in kürzester Entfernung mehr als zwanzig am Straßenrand stehende T-34 zerstören konnten, weil sich die „Besatzungen in den Häusern vergnügten“. Im Häuserkampf habe man es vor allem mit betrunkenen Polen zu tun gehabt, die „dabei Frauen als Kugelfang“ vor sich her trieben. In Weigersdorf wurden am 21. April 120 von den Russen an die Polen übergebene Kriegsgefangene erschossen.

Deutsche Gefangene wurden in Scheune verbrannt

Daß die sich bereits als Eroberer Bautzens fühlenden Polen und Russen erbarmungslos die Verwundeten eines Lazaretts töteten und die Krankenschwestern vergewaltigten, taucht nur in den Erinnerungen eines Panzeroffiziers auf, der von seinen Kameraden gerettet werden konnte und sich nach dem Krieg das Erlebte von der Seele schrieb. Stattdessen ist in der Literatur von zahlreichen Lazaretten die Rede, die angeblich von den permanent unter Benzinmangel leidenden Deutschen angezündet wurden. So am 22. April in Guttau die Gebäude eines polnischen Feldlazaretts, wobei 85 russische und polnische Soldaten den Tod fanden, oder ein russisches Feldlazarett im Wald von Diehsa bei Weißenberg. In Bautzen und in Horka (26. April) sollen Ärzte, Schwestern und Verwundete von „Wehrmachts- und SS-Einheiten“ erschossen bzw. mit Messer- und Bajonettstichen getötet worden sein. Dabei soll es in Horka zwischen 200 und 300 Tote gegeben haben. Auch Seidel berichtet in seinem Buch von mindestens 400 ermordeten sowjetischen und polnischen Soldaten.

Geschichtlich unkorrekt wird bis heute das Massaker von Niederkaina bei Bautzen, bei dem auch Seidels Vater umkam, dargestellt. Auf einer Tafel wird hier der „195 Opfer, die in dieser ehemaligen Scheune, am 22. April 1945, von Angehörigen der 1. Ukrainischen Front verbrannt wurden“, gedacht. Das ist zwar militärgeschichtlich richtig, weil die 2. polnische Armee zu dieser Heeresgruppe gehörte, spart aber die Nennung der wahren Nationalität der Kriegsverbrecher aus, obwohl diese nach der Rückeroberung des Dorfes und die Befragung zweier Überlebender dokumentiert ist: Mehr als 200 Volkssturmmänner, die sich zuvor ergeben hatten, wurden von polnischen Soldaten in die mit Stroh gefüllte Scheune gesperrt und diese angezündet. „Einige Volkssturmmänner, die im letzten Augenblick versuchten, sich durch die kleine Tür im Scheunentor zu retten, wurden durch MG-Garben umgelegt“, schreibt die Frontzeitung der 4. Panzerarmee Raupe und Rad am 5. Mai 1945. Weitere siebzig deutsche Soldaten wurden im Umfeld entdeckt, getötet durch Genickschuß.