© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

„Mit dem Grundgesetz ist das nicht alles vereinbar“
Corona-Stillstand: Der renommierte Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek kritisiert die Regierung scharf
Moritz Schwarz

Herr Professor Murswiek, was werfen Sie der Bundesregierung vor?

Dietrich Murswiek: Mein Anliegen ist nicht, der Bundesregierung etwas vorzuwerfen, sondern den Lockdown der grundrechtlich verbürgten Freiheit so schnell wie möglich zu beenden. Die Regierung hat Fehler gemacht, und sie hat, gemeinsam mit den Landesregierungen, in der Eile auch überzogene und verfassungswidrige Maßnahmen erlassen. Ich sehe aber nicht, daß die Oppositionsparteien es besser gemacht hätten. Jetzt kommt es darauf an, daß auch in dieser Krise die Grundrechte genauso ernst genommen werden wie im Normalfall.

Und das tut die Bundesregierung nicht? Verstößt die Stillstand-Politik also gegen das Grundgesetz?

Murswiek: Nicht die Corona-Politik im ganzen ist verfassungswidrig, aber etliche Einzelmaßnahmen. Und zumindest problematisch ist es, den Lockdown immer noch in dem jetzt beschlossenen Umfang aufrechtzuerhalten. Aufgrund anfänglicher Fehleinschätzungen und zu zögerlichen Vorgehens zu Beginn der Epidemie drohte das Virus sich unkontrolliert zu verbreiten; katastrophale Folgen wurden befürchtet. Daraufhin hat man mit dem Shutdown die Reißleine gezogen. Das mag zunächst berechtigt gewesen sein. Aber dann hätte man sofort überprüfen müssen, ob man mit weniger einschneidenden Maßnahmen einen ausreichenden Schutz vor Covid-19 erreichen kann. Stattdessen entstand unter Politikern ein Wettbewerb, wer die schneidigsten Verbote erläßt. Das führte uns in einen Ausnahmezustand, wie wir ihn seit Bestehen der Bundesrepublik noch nie gehabt haben: flächendeckende und einschneidende Grundrechtsbeschränkungen für die gesamte Bevölkerung, Lahmlegung ganzer Wirtschaftszweige, totale Suspendierung der Versammlungsfreiheit, Veranstaltungsverbote, Gottesdienstverbote. Das ist in ganz besonderem Maße rechtfertigungsbedürftig, und die Bundesregierung hat ihre Rechtfertigungspflicht nicht hinreichend erfüllt.

Stellt die Corona-Pandemie nicht einen Notstand dar und rechtfertigt der nicht die Außerkraftsetzung der Grundrechte?

Murswiek: Der Grundsatz „Not kennt kein Gebot“ gilt im deutschen Verfassungsrecht nicht. Das Grundgesetz enthält zwar besondere Regeln für den inneren und äußeren Notstand. Die sind hier aber nicht anwendbar, abgesehen von einer Vorschrift, die Hilfseinsätze der Bundeswehr bei Naturkatastrophen zuläßt. Aber die Grundrechte gelten auch in einer Katastrophensituation. Die grundrechtlich garantierten Freiheiten dürfen eingeschränkt werden, aber nur, soweit die verfassungsrechtlichen Einschränkungsvoraussetzungen erfüllt sind.

Welche Voraussetzungen sind dies?

Murswiek: Im wesentlichen geht es um die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Grundrechts­einschränkungen müssen einem Gemeinwohlziel dienen, und sie müssen – bezogen auf dieses Ziel – geeignet, erforderlich und im engeren Sinne verhältnismäßig sein. Bei der Abwägung der Freiheitseinschränkungen mit dem angestrebten Gemeinwohlnutzen darf der Nachteil für die Betroffenen nicht schwerer wiegen.

Aber wiegt der Schutz des Lebens nicht schwerer als die vorübergehende Einschränkung etwa der Demonstrationsfreiheit?

Murswiek: Natürlich ist der Schutz des Lebens ein legitimes Gemeinwohlziel, und im Falle einer Epidemie mit möglicherweise katastrophalen Folgen kann dieses Ziel auch sehr weitreichende Grundrechtseinschränkungen rechtfertigen. Aber nicht jede Freiheitseinschränkung ist schon deshalb gerechtfertigt, weil sie dem Schutz des Lebens dient. Sie muß auch geeignet und erforderlich sein. Um dies zu beurteilen, muß man das Ziel präzisieren. Wenn ich die Bundesregierung richtig verstanden habe, geht sie davon aus, daß sich die Verbreitung des Virus nicht verhindern, sondern nur verzögern läßt. Der Shutdown soll dazu dienen, die Infektionskurve abzuflachen, um die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Man will erreichen, daß möglichst alle Covid-19-Patienten eine optimale und nötigenfalls lebensrettende Behandlung erhalten können. Auf dieses Ziel muß sich also die Verhältnismäßigkeitsprüfung beziehen.

Und worin besteht dann das verfassungsrechtliche Problem? Die Stillstand-Politik ist doch geeignet, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen und zu verhindern, daß die Intensivstationen überfüllt sind.

Murswiek: Richtig, aber er ist nicht erforderlich, wenn das Ziel auch ohne die Stillegung des gesamten öffentlichen Lebens erreicht werden kann. Für die allermeisten Menschen verläuft die Infektion mit Sars-CoV-2 doch völlig harmlos. Schwere Verläufe bei vorher gesunden Patienten sind anscheinend äußerst selten. Wenn es zutrifft, daß das Virus nur für besondere Risikogruppen, die schwerwiegende gesundheitliche Vorbelastungen aufweisen, ein erhebliches Lebensrisiko darstellt, dann bedeutet Schutz des Lebens vor Sars-CoV-2-Infektionen fast ausschließlich Schutz der Risikogruppen. Deshalb fragt sich, ob man die gesamte Bevölkerung in ihrer Bewegungsfreiheit und ihren persönlichen Kontakten beschränken darf, wenn es um den Schutz der sehr viel kleineren Gruppe besonders risikobelasteter Menschen geht. Diese Frage ist zu verneinen, wenn die Angehörigen der Risikogruppen mit gezielten und differenzierten Maßnahmen wirksam geschützt werden können. Dann brauchen wir keinen Lockdown für die gesamte Bevölkerung.

Wie könnten solche Maßnahmen aussehen?

Murswiek: Eigentlich müßte es ausreichen, wenn nur die zu den Risikogruppen zählenden Menschen isoliert bleiben. Das sollte ihnen dringend empfohlen werden. Wer schwerwiegende Vorbelastungen hat, kann sich selbst schützen, indem er sich freiwillig in Quarantäne begibt. Dazu sollte er die notwendige Unterstützung erhalten. Begleiten müßte man das mit besonderen Vorsichtsmaßnahmen für die Kontaktpersonen, also beispielsweise mit Schutzkleidung und mit regelmäßigen Tests für das Personal von Altersheimen. Infektionen unter der übrigen Bevölkerung sind im Prinzip nicht schlimm, sondern tragen im Gegenteil durch Schaffung einer „Herdenimmunität“ zur Überwindung der Epidemie bei.

Also meinen Sie, der Stillstand sei nicht erforderlich und deshalb verfassungswidrig?

Murswiek: Er könnte allenfalls dann gerechtfertigt werden, wenn sich zeigen ließe, daß trotz dringend empfohlener Isolierung der Risikogruppen mit einer Überlastung der Intensivstationen gerechnet werden müßte. Die Bundesregierung muß transparent darlegen, mit welcher Auslastung des Gesundheitssystems sie bei welchen Epidemieverläufen rechnet. Sie muß darlegen, wo die Engpässe liegen und ob sie, und in welchem Zeitraum, behoben werden können. Wenn die Bundesregierung einfach nur behauptet, ohne den Lockdown bräche das Gesundheitssystem zusammen, genügt sie ihrer Begründungspflicht nicht.

Und wenn die Regierung die nötigen Daten liefert, ist dann alles in Ordnung?

Murswiek: Nein. Auf jeden Fall geht der Lockdown viel zu weit, auch nach der jetzt beschlossenen Auflockerung. Ein totales Versammlungsverbot und ein totales Gottesdienstverbot sind unverhältnismäßig. Veranstaltungen und Demonstrationen mit begrenzter Teilnehmerzahl, bei denen die Veranstalter die Beachtung der Infektionsschutzabstände garantieren, müssen erlaubt werden. Entsprechendes gilt für Gottesdienste. Das Verbot der Nutzung einer eigenen Zweitwohnung läßt sich nicht rechtfertigen, und auch das Verbot der Vermietung von Ferienwohnungen dürfte unverhältnismäßig sein, sofern Hygienestandards eingehalten werden. Vieles spricht auch dafür, daß das Verbot, Ladengeschäfte mit mehr als achthundert Quadratmeter Verkaufsfläche zu öffnen, willkürlich ist. Das sind nur Beispiele. Im übrigen folgt aus den Grundrechten, daß die Bundesregierung und die Landesregierungen verpflichtet sind, ständig zu überprüfen, ob die bestehenden Verbote noch gerechtfertigt sind. Sie müssen umgehend aufgehoben oder zumindest aufgelockert werden, sobald die Entwicklung der Epidemie dies zuläßt.

Was folgt denn aus diesem Zustand? Wie kann eine grundgesetzwidrige Grundrechts­einschränkung bestehen, ohne eine massive Verfassungskrise auszulösen? Und was können die Bürger dagegen tun? 

Murswiek: Man kann klagen. Und man kann zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen, etwa durch Kommentare im Internet, durch Unterstützung von Petitionen, durch E-Mails an Politiker.

Andererseits: Sind die Grundrechtseingriffe nicht durch das am 25. März verschärfte Infektionsschutzgesetz gerechtfertigt?

Murswiek: Nein. Zwar stützen sich die Rechtsverordnungen der Bundesländer, die den Lockdown regeln, auf das novellierte Infektionsschutzgesetz. Aber die Einschränkung von Grundrechten muß zusätzlich anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerechtfertigt werden. 

Manche sehen in der Novellierung des Infektionsschutzes eine Art „Ermächtigungsgesetz“. Diese Kritik ist also falsch?

Murswiek: Sie ist falsch, sofern damit gemeint ist, das Gesetz ermächtige zu willkürlichen Grundrechtseingriffen. Zwar kann jetzt eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“, also eine Art gesundheitspolitischer Notstand, ausgerufen werden. Das Gesetz ermächtigt den Bundesgesundheitsminister in dieser Lage auch zu Grundrechtseingriffen, die allerdings nichts mit dem Shutdown zu tun haben, sondern sich auf die Einreise nach Deutschland sowie auf Fragen der medizinischen Versorgung beziehen. Problematisch ist, daß das Gesetz den Gesundheitsminister auch ermächtigt, durch Rechtsverordnung Ausnahmen von den Vorschriften mehrerer Gesetze zuzulassen. So kann die Exekutive das Parlament überspielen. Das ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

Unabhängig vom Infektionsschutzgesetz: Nutzt die Regierung vielleicht nicht die Beschneidung unserer Grundrechte, um das Virus zu bekämpfen – sondern den Kampf gegen das Virus, um unsere Grundrechte zu beschneiden? Hat sie möglicherweise vor, die Entrechtung danach nicht oder nur teilweise wieder rückgängig zu machen? Oder steckt sie vielleicht hinter dem Virus oder hat ihn gar nur erfunden, um die Demokratie abzuschaffen? All diese Vorwürfe werden derzeit gemacht – gibt es stichhaltige Indizien dafür? 

Murswiek: Nein, ich kann trotz aller Kritik am grundgesetzwidrigen Verhalten der Regierung nichts erkennen, was darauf hindeutet, daß sie vorhätte, die Maßnahmen nicht auf die Dauer der Epidemie zu beschränken. 

Für viel Unmut hat die Aufhebung des Demonstrationsrechts gesorgt. Dabei stellen Demos unter Einhaltung der Abstandsregeln keine Gefahr dar. Warum ist das also nicht per se klar grundgesetzwidrig? 

Murswiek: Das Bundesverfassungsgericht argumentiert in einer vorläufigen Entscheidung: Das Risiko sei zu groß, daß Demonstrationen durch Zulauf während ihrer Durchführung unkontrolliert wachsen und die Abstände nicht mehr eingehalten werden. Ich meine allerdings, daß Sie mit Ihrem Einwand im Prinzip recht haben – zumindest bei kleinen Demonstrationen, wie Mahnwachen etc. Solche Veranstaltungen sind wegen ihrer geringen Teilnehmerzahl kontrollierbar. Deshalb gibt es keinen Grund, sie zu verbieten – wenn sie die Infektionsschutzregeln einhalten.

Warum sind sie es dann und werden nicht ab sofort wieder allgemein erlaubt?

Murswiek: Das sind Nachwirkungen des panischen Lockdown. Das wird sich nicht mehr lange halten lassen. Erste Bundesländer erlauben jetzt kleine Versammlungen. Und zwei Eilanträge hatten beim Bundesverfassungsgericht bereits Erfolg.

Die Folgen des Stillstands reichen von der Gefahr einer Wirtschaftskrise oder Inflation über massive volkswirtschaftliche Schäden – die am Ende immer am stärksten Arme, Kranke und Schwache treffen –, bis hin zu persönlichen Tragödien wie Ruin, Verschuldung, Armut und psychischen Erkrankungen – und keineswegs auszuschließen, in manchen Fällen: Obdachlosigkeit oder Selbstmord. Dazu kommt: Was, wenn künftig unverschuldet Ruinierte oder Hinterbliebene von Verzweiflungsselbstmördern den Staat verklagen, weil dieser Stillstand statt Quarantäne für Risikogruppen verordnet hat. Wie geht das dann aus?

Murswiek: Wer durch staatliche Verbote einen Schaden erlitten hat, obwohl er selbst nicht für die Gefahr verantwortlich ist, die mit dem Verbot abgewendet werden soll, muß meines Erachtens einen Anspruch auf Entschädigung haben. Auch ist vom Standpunkt der Verteilungsgerechtigkeit nicht einzusehen, warum manche die Folgen der Maßnahmen ausbaden sollen, andere nicht. Für Schäden, die durch politische Entscheidungen verursacht werden, müssen alle Bürger als Steuerzahler aufkommen, und so werden die Coronamaßnahmen wohl noch sehr, sehr teuer für uns alle werden.                    






Prof. Dr. Dietrich Murswiek, der Völker- und Verfassungsrechtler lehrte unter anderem in Göttingen und Speyer und war bis 2016 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Er ist Mitautor des „Bonner Kommentars zum Grundgesetz“ und war Berater und Gutachter unter anderem der Grünen, Linken, ÖDP und AfD sowie Prozeßbevollmächtigter mehrerer Verfassungsbeschwerden. Geboren wurde er 1948 in Hamburg.

Foto: Polizisten sollen Corona-Maßnahmen durchsetzen (am Samstag in Berlin): „Deshalb fragt sich, ob man die gesamte Bevölkerung ... beschränken darf, wenn es um den Schutz einer sehr viel kleineren Risikogruppe geht. Die Frage ist zu verneinen, wenn diese Gruppe mit gezielten Maßnahmen wirksam geschützt werden kann. Dann brauchen wir keinen Lockdown für alle“ 

 

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