© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

„Nicht anständig und nicht zielführend“
Energiepolitik: Die Corona-Krise soll für Grüne den vorgezogenen Atomausstieg bringen / Wer sichert die Systemstabilität des deutschen Stromnetzes?
Manfred Haferburg

Die Corona-Panik scheint am Abflauen, denn es mehren sich die schrillen Stimmen jener, deren ideologische Agenda unter einem Aufmerksamkeitsdefizit leidet. So fordert die Deutsche Umwelthilfe „die kurzfristige Einführung eines temporären Tempolimits“ von 120 auf Autobahnen, 80 auf Landstraßen und Tempo 30 in Städten. „Wenn jetzt Hunderte Milliarden fließen, dann muß jedes Konjunkturpaket auch gezielt den Klimaschutz voranbringen“, verlangt das „breite, zivilgesellschaftliche Bündnis #NetzstreikFürs­Klima“ von Attac, Campact, Fridays for Future, Greenpeace & Co.

Doch trotz vieler Unterstützer sind die Grünen inzwischen unter 20 Prozent gerutscht. Daher hat die Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl einen Brief an Bundesumweltministerin Svenja Schulze sowie an die Länderressortkollegen Olaf Lies (SPD, Niedersachsen) und Thorsten Glauber (Freie Wähler, Bayern) geschickt und darin die Abschaltung der Kraftwerke Grohnde, Emsland und Gundremmingen verlangt.

Da externe Fachkräfte „über mehrere Wochen hinweg in den Anlagen Brennelemente austauschen und zahlreiche Inspektionen und Instandhaltungsarbeiten durchführen“, könnten die „AKW zu Hotspots einer weiteren Verbreitung des Coronavirus“ werden. Die Revisionen sollten daher „ausgesetzt“ werden. Die deutschen Kraftwerke seien „unter den gegebenen Umständen weniger denn je systemrelevant. Daher können und müssen die Revisionen bis zur Überwindung der Corona-Pandemie ausgesetzt und beide Atomkraftwerke bis dahin abgeschaltet werden.“

Aber welche Qualifikation befähigt die 67jährige zu solchen Feststellungen? Die Badenerin hat Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte studiert. Sie war Dramaturgin an der Landesbühne und Dozentin bei Bildungsträgern. Mit solcherart Rüstzeug ausgestattet, wird man bei der Grünen-Bundestagsfraktion für zwei Wahlperioden atompolitische Sprecherin. 2018 stieg sie sogar zur Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit auf. Sprach sie im Namen dieses Gremiums mit 39 ordentlichen Mitgliedern? Gibt es einen entsprechenden Ausschußbeschluß? Auf dem Briefkopf firmiert sie als Ausschußvorsitzende.

Mit ihrer Abschaltforderung und verlangten Wartungsverzögerung setzt sich die frühere Landeschefin der Grünen in Baden-Württemberg über sämtliche atomgesetzlichen Rechte und Pflichten der Energieversorger hinweg. Sie ignoriert Beschlüsse der zuständigen Landesregierungen und der Bundesregierung sowie die längst getroffenen Abstimmungen der Kraftwerksbetreiber mit den Landesbehörden zum Coronaschutz während der Wartungsarbeiten. Und die Leistung der drei Großkraftwerke, immerhin insgesamt 4.500 Megawatt, ist von den Netzbetreibern für das Wiederanfahren der Industrie verplant.

Der niedersächsische Sozialdemokrat Olaf Lies stellt folgerichtig in einer Pressekonferenz klar, daß die grünen Forderungen zur Abschaltung der Kraftwerke „nicht anständig und nicht zielführend“ sind. Die AKW zählen daher zu den kritischen Infrastrukturen Strom, Wasser, Gas, Abfall, Gesundheit und Verkehr. „Es gehöre sich nicht, Corona mit dem Kernenergieausstieg zu vermischen“, meinte Lies, der auch Diplom-Ingenieur für Elektrotechnik ist.






Manfred Haferburg ist Kernenergetiker, lebt in Paris und berät Risikoindustrien in Sicherheitsfragen. Er ist Autor des autobiographischen DDR-Romans „Wohn-Haft“.